Die Beurteilung der Westverbindung der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung


Magisterarbeit, 1995

146 Seiten, Note: 1.5


Leseprobe


Die Beurteilung der Westbindung nach der Wiedervereinigung

Die politische Lage Deutschlands nach dem Ende des Kalten Krieges und die daraus sich ergebenden neuen Fragestellungen in der Geschichtswissenschaft

Der Fall der Berliner Mauer im November 1989 setzte einen epochalen Prozeß in Gang, an dessen Ende die Auflösung der globalen Bipolarität stand. Die Zustimmung des sowjetischen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschow zur Wiedervereinigung der Bundesrepublik und der DDR bedeutete die Überwindung der Teilung Deutschlands, Europas und der Welt in zwei konträre Machtblöcke, die sich bisher gegenseitig in Schach gehalten hatten. Der 1991 erfolgte Zerfall der Sowjetunion entschied den kapitalistisch-kommunistischen Weltbürgerkrieg zugunsten des Westens und beseitigte damit endgültig die auf einer Machtbalance beruhende Nachkriegsordnung, die durch ein permanentes Nullsummenspiel der beiden Supermächte infolge des amerikanisch-sowjetischen Bilateralismus vier Jahrzehnte lang aufrechterhalten worden war.

Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus beendete ferner den auf nuklearer Konfrontation basierenden Kalten Krieg und entzog dem Warschauer Pakt die Grundlage seiner Existenz, zumal das Feindbild von der USA als Hort des Weltimperialismus gleichzeitig mit dem globalen Sieg des Kapitalismus verschwand.

Aufgrund dieser völlig veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen sind nun auch sämtliche Voraussetzungen entfallen, die die Adenauersche Politik der Westintegration determiniert hatten. Damit steht auch die Westbindung eines wiedervereinigten Deutschlands zumindest auf wissenschaftlicher Ebene zur Disposition.

Die internationalen Macht- und Bündniskonstellation der frühen neunziger Jahre drängen Historikern und Politologen neue Fragestellungen auf, die "mit ganz unvermuteten Forschungsnotwendigkeiten" in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. In dieser Hinsicht weist Günther Schulz zurecht darauf hin, daß die Geschichtswissenschaft "in dem einen oder anderen Fall ... im Lichte der Akten aus der früheren DDR, die gegenwärtig der historischen Forschung zugänglich werden, vielleicht doch die Grundlagen, Bezüge und Zusammenhänge vieler zeitgenössischer Entscheidungen und Handlungen neu" bewerten muß. Denn die 1990 erfolgte Öffnung des Zentralen SED-Parteiarchievs der ehemaligen DDR, die nun die Einsicht in bisher unter Verschluß gehaltene wertvolle Quellen ermöglicht, könnte unter Berücksichtigung neu gewonnener objektiver Erkenntnisse tatsächlich eine grundlegende Revision des aktuellen Forschungsstands zur Adenauer-Ära erforderlich machen. Diesen veränderten Sachverhalt bringt Hans-Günter Hockerts auf eine einfache Formel:

"Bisher war die deutsche Frage offen, jetzt ist es die Zeitgeschichte."

Anselm Doering-Manteuffel nennt hierfür konkrete Ursachen. Seiner Ansicht nach wurden die westdeutschen Historiker vor der Wiedervereinigung stark beeinflußt "von der westlichen Propaganda des Kalten Krieges, die zum einen siegesorientiert und zum anderen prononciert antiöstlich gewesen ist."

Andererseits konstatiert Hans-Peter Schwarz in Bezug auf die Interpretation der deutschen Teilung erhebliche Defizite der Historiographie. Seiner Auffassung zufolge hat sich in der jüngsten Vergangenheit die "Geschichtswissenschaft - auch die Zeitgeschichte - ... außerordentlich „trendy“ verhalten, was die zeitgenössische Analyse des Ost-West-Konflikts und der Teilung angeht. Sie hat sich größtenteils sehr blamiert... Die Historikerzunft muß also wirklich kritisch sehen, was sie getan hat ... Sie hat sich an die Politik und an die jeweiligen Gegebenheiten in den internationalen Beziehungen angepaßt. Was man ihr vorwerfen muß, ist, daß sie vielfach die bestehenden Machtverhältnisse und eine häßliche Diktatur auf deutschem Boden legitimiert hat."

Diese selbstkritischen Überlegungen legen eine nüchterne historiographische Bestandsaufnahme nahe, die eine eingehende Überprüfung der bisherigen Forschungsergebnisse erfordert. Dies gilt selbstverständlich auch für die Beurteilung Adenauers und seiner Westintegration. Da die Realisierung der Wiedervereinigung zu einer grundlegend veränderten Perzeption in der Geschichts- und Politikwissenschaft geführt hat, kann der Historiker nun aus der "Weitwinkelperspektive" und von einem "höheren Informationsstand aus auf Adenauers Außenpolitik schauen" und demzufolge den Weg der Westbindung aus einer größeren Distanz heraus analysieren. Gregor Schöllgen erwartet dadurch jedoch keine Tendenzwende in der Bewertung des ersten Bonner Bundeskanzlers. Nach seiner Anschauung sei es nicht ersichtlich, "warum man Adenauer jetzt anders beurteilen sollte - besser oder schlechter -, als man dies vor vier oder fünf Jahren getan hat".

Doch genau dies ist inzwischen eingetreten. Eine objektive und gerechte Betrachtung seiner außenpolitischen Lebensleistung gestaltet sich derzeit jedoch außerordentlich schwierig. Dies zeigt allein die Tatsache, daß selbst Arnulf Baring, "einer der besten Adenauer-Kenner" und laut BILD-Zeitung "Deutschlands größter Historiker", nun exakt das Gegenteil von dem behauptet, was er noch vor wenigen Jahren über Adenauer geschrieben hat. Während Baring 1988 noch der Meinung war, dieser habe die (alte) Bundesrepublik als etwas Endgültiges begriffen und erkannt, daß sich Westpolitik und Wiedervereinigungsanspruch gegenseitig aufhoben , bezeichnete er Adenauer im September 1990 plötzlich als Wegbereiter der deutschen Einheit.

Dieser Wertung schloß sich auch Rudolf Augstein an, der in den 50er Jahren als "schärfster publizistischer Kritiker" der Westintegration hervorgetreten war. Da diese Politik "jahrzehntelang ... mit dem Stachel behaftet" war, "das Wiedervereinigungsversprechen nicht einlösen zu können", erscheint der Kurs der Westbindung aus dem Blickwinkel der 90er Jahre mit einem mal als langfristig erfolgreicher, ja sogar als der einzig mögliche Weg zur Wiedervereinigung. Allerdings mangelt es nicht an Stimmen, die in dieser Frage nach wie vor kritische Töne ausschlagen. So bezeichnet beispielsweise Klaus Günther in einer Rezension die 1991 erschienene Adenauer-Biographie (Band 2) von Hans-Peter Schwarz als idealisiertes "Bild einer Persönlichkeit und einer Ära, das die nach der Wende 1989/90 fälligen Diskussionen nicht ‘unversehrt’ überstehen dürfte."

Adenauer selbst meinte einmal, es gehe in der Geschichte nicht darum, recht zu haben, sondern recht zu behalten.

Insofern ist im folgenden zu untersuchen, ob und inwiefern der erste Bonner Kanzler mit seiner Politik der Stärke gegenüber der Sowjetunion letztendlich recht behalten hat.

Die in den 50er Jahren vorgenommene strikte Westorientierung kann jedoch nur dann angemessen beurteilt werden, wenn im Hinblick auf die Option der Wiedervereinigung die seinerzeit aufgezeigten und durchaus ernstzunehmenden Alternativen entsprechend gewürdigt werden. In diesem Zusammenhang erhält das Jahr 1952 eine entscheidende Bedeutung. Die beabsichtigte militärische Integration der Bundesrepublik in die EVG und die schroffe Ablehnung verschiedener Offerten Stalins zur Wiederherstellung der deutschen Einheit sind auch heute noch die mit Abstand umstrittensten Entscheidungen Adenauers und bilden daher den beliebtesten Diskussionsgegenstand der Forschung. Die Debatte um vermeintlich oder tatsächlich verpaßte Chancen zur Wiedervereinigung wird daher auch in dem nun folgenden Hauptteil dieser Magisterarbeit breiten Raum einnehmen.

Zur außenpolitischen Eigenständigkeit Adenauers: Kanzler der Alliierten oder "amerikanischer als die Amerikaner"?

Die Ausgangslage 1949

Für eine gerechte Beurteilung der Politik der Westbindung muß zunächst einmal geklärt werden, in welchem Umfang Adenauer überhaupt seine eigenen Vorstellungen verwirklichen konnte. Denn zweifellos mußte er jede einzelne Entscheidung mit den Bevollmächtigten der Westmächte abstimmen; der Grad der Abhängigkeit von den Hohen Kommissaren ist allerdings umstritten.

Insofern ist nun zu untersuchen, inwieweit Kurt Schumachers berühmt gewordener Vorwurf zutrifft, Adenauer sei der "Kanzler der Alliierten".

Für diese Unterstellung des Oppositionsführers spricht zunächst einmal die Tatsache, daß "die Grundlagen für die Integration der Bundesrepublik in das westliche System nicht etwa in Bonn, sondern in Washington, London und Paris entwickelt worden" sind. "Die westlichen Alliierten hatten den Kurs des neuen Staatsschiffs festgelegt, bevor deutsche Steuermänner die Chance erhielten, es in vorgegebenen Grenzen selbst zu steuern."

Die sogenannte Trizone war also nicht nur während der Jahre von 1945-1949 Objekt alliierter Machtpolitik, sondern blieb auch nach der Konstituierung der Bundesrepublik und dem Amtsantritt der Bundesregierung zunächst dem Willen der westlichen Siegermächte unterworfen. In den ersten eineinhalb Jahren fehlte dem Kabinett ein Außenminister, da noch kein Auswärtiges Amt existierte. Adenauer präsidierte "einem Protektorat ohne außenpolitische Souveränität."

Demzufolge waren "die politischen Karten ... so gemischt, daß bei einer Verweigerung Bonns mit einer verhärteten Haltung der Westmächte gerechnet werden mußte."

Ein von Beginn an unbotmäßiger Kanzler hatte also aller Wahrscheinlichkeit nach keine Chance, sich aus der eisernen Umklammerung der Besatzungsmächte schrittweise zu befreien. So blieb Adenauer nur die Möglichkeit, seine Karriere als "Mann der Amerikaner" zu beginnen und durch eine Politik der Vorleistungen seinen Willen zu einer konstruktiven Zusammenarbeit zu demonstrieren. Dadurch schuf er eine solide Vertrauensbasis, die ihm in den folgenden Jahren die allmähliche Gewinnung außenpolitischer Eigenständigkeit ermöglichte. Die westlichen Siegermächte lösten damit ihr Versprechen ein, "daß die der deutschen Bundesrepublik bei der Führung der deutschen Angelegenheiten eingeräumte Entscheidungsfreiheit unter dem Besatzungsstatut in dem Maße erweitert wird, wie die deutsche Bundesregierung den Beweis liefert, daß sie sich auf dem Wege zu einem freien, demokratischen und friedlichen Deutschland befindet."

Diese essentials standen jedoch auch für Kurt Schumacher außer Zweifel. Der Oppositionsführer bekannte sich in verschiedenen Reden immer wieder unmißverständlich zu dem überparteilichen Konsens, "daß Deutschland und sein Volk Bestandteile der Kultur und der gesellschaftlichen und demokratischen Auffassung des Westens"

seien, wehrte sich jedoch entschieden gegen Adenauers Politik der Vorleistungen und seiner "Nachgiebigkeit gegenüber alliierten Zumutungen", die nichts anderes sei "als die totale, die Nation und Europa zerstörende Resignationspoltitik."

Trotz seines offensichtlichen Mißtrauens gegenüber der Politik der US-Regierung darf jedoch aus der amerikakritischen Haltung Schumachers nach dem Zweiten Weltkrieg kein prinzipieller Antiamerikanismus abgeleitet werden, zumal er den Regierungen Großbritanniens und Frankreichs mit der gleichen Distanz begegnete.

Man würde Adenauer aber unrecht tun, wenn man ihn aufgrund seiner Abhängigkeit von den Alliierten gleichsam als Vasall und Befehlsempfänger der Westmächte abqualifizierte. Adolf Birke weist deshalb zurecht darauf hin, daß der Kanzler als "außerordentlich zäher und zugleich kompetenter Verhandlungsführer, der bei der Formulierung des Vertragstextes stets dessen innenpolitische Umsetzbarkeit mitbedachte" , in den ersten Jahren seiner Amtszeit zunehmend eigenes politisches Gewicht in die Waagschale werfen und damit durchaus seinen Einfluß auf die Meinungsbildung der Westalliierten geltend machen konnte. Die noch 1988 getroffene Schlußfolgerung Barings, Adenauer sei definitiv der Kanzler der Alliierten gewesen, ist in dieser Pauschalität mittlerweile überholt und bedarf einer Revision.

„Mythos" Handlungsspielraum?

Im Rahmen einer kritischeren Betrachtung Adenauers nach der Wiedervereinigung läßt Rainer Zitelmann den Hinweis auf die zu geringe außenpolitische Handlungsfreiheit als Argument für Adenauers enge Anlehnung an die Westmächte nicht mehr gelten, da deren Reaktion auf eine abweichende Linie des Kanzlers niemals im voraus prophezeit werden konnte. Insofern sieht Zitelmann hinter dem Begriff des Handlungsspielraums einen "Mythos", der an der damaligen Realität vorbeiführt. Seiner Ansicht nach berief sich Adenauer immer dann auf seine stark eingeschränkte Eigenständigkeit, wenn er "Entscheidungen, die er so fällen „wollte“, als durch den restriktiven Handlungsspielraum determiniert" rechtfertigte, "um sie damit der kontroversen Debatte zu entziehen."

Einige seiner Gegner hätten diese Taktik jedoch durchschaut und an einigen konkreten Beispielen nachgewiesen, daß Adenauer in Wirklichkeit größeren Freiraum hatte, als er öffentlich zuzugeben bereit war. Diese Feststellung erweist sich angesichts der Debatte um den sogenannten Generalvertrag (Deutschland-Vertrag) als besonders zutreffend. Die in Art. 7, Abs. 3 festgeschriebene sogenannte Bindungsklausel führte im Mai 1952 zu einer ernsthaften Kabinettskrise, die nur durch ein Einlenken des Kanzlers letztendlich bewältigt werden konnte. Adenauer allein hatte in den Verhandlungen mit den Hohen Kommissaren einen Vorstoß unternommen, eine Formulierung folgenden Wortlauts in den Vertrag miteinzubeziehen:

"Die Drei Mächte und die Bundesrepublik sind sich darin einig, daß ein wiedervereinigtes Deutschland durch die Verpflichtungen der Bundesrepublik nach diesem Vertrag, den beigefügten Abkommen und den Verträgen über die Bildung einer integrierten europäischen Gemeinschaft - in einer gemäß ihrer Bestimmungen oder durch Vereinbarung der beteiligten Parteien angepaßten Fassung - gebunden sein wird, und daß dem wiedervereinigten Deutschland in gleicher Weise die Rechte der Bundesrepublik aus diesen Vereinbarungen zustehen werden."

Adenauer beharrte eigenmächtig auf diesem Passus, ohne von den Westalliierten in irgendeiner Weise auf diese eindeutige Haltung festgelegt worden zu sein.

Ihm lag vor allem daran, die strikte Westbindung auch für einen gesamtdeutschen Staat von vorneherein vertraglich abzusichern und damit Neutralitätsvisionen jeglicher Art für immer auszuschließen.

Da die zitierte Fassung für die Sowjetunion als Grundlage für zukünftige Verhandlungen über die Wiedervereinigung völlig inakzeptabel war, gelang es Jakob Kaiser, Thomas Dehler und Vizekanzler Franz Blücher in einer Kabinettssitzung, über den Wortlaut der Bindungsklausel neu zu beraten. Obwohl die drei Minister die ersatzlose Streichung als ihr Maximalziel nicht durchsetzen konnten, erreichten sie zumindest eine Formulierung, die die automatische Bindung eines vereinten Deutschlands an die Westverträge nicht mehr vorschrieb.

Obwohl Adenauer diese Neufassung mit dem Hinweis auf einen erheblichen Vertrauensverlust der Bundesrepublik bei den Westmächten verhindern wollte, erhob der amerikanische Außenminister Dean Acheson dagegen keinerlei Bedenken.

Dieses Beispiel verdeutlicht, daß Konrad Adenauer infolge seines wachsenden Einflusses als selbstbewußter Staatsmann bereits in den frühen 50er Jahren keineswegs nur als Kanzler der Alliierten seine politische Handlungsfähigkeit aufrechterhalten konnte. Der Vorwurf Kurt Schumachers, sofern er wörtlich gemeint war, darf daher als widerlegt gelten, da der außenpolitische Entscheidungsprozeß der Bundesrepublik von 1949-1955 nach dem heutigen Erkenntnisstand erkennbar die Handschrift des Kanzlers trägt.

Die Feststellung Rolf Steiningers, Adenauer sei "amerikanischer als die Amerikaner" gewesen, kann allerdings gerade im Hinblick auf die Entstehung der Bindungsklausel nicht so leicht von der Hand gewiesen werden.

Westbindung im Vergleich: Kontinuität oder Bruch mit außenpolitischen Traditionen?

Die Locarno-Politik Gustav Stresemanns

Unmittelbar nach der Wiedervereinigung ist die bereits Mitte der 80er Jahre ausgetragene Kontroverse über den Einklang der Westintegration mit den außenpolitischen Grundsätzen der Weimarer Republik neu entflammt.

Christian Hacke vertritt die Auffassung, daß Konrad Adenauer mit der Ratifizierung der Pariser und Römischen Verträge wieder an die Locarno-Politik anknüpfte, da die Bundesrepublik durch die unwiderrufliche militärische und ökonomische Bindung an den Westen "Kontinuität mit der Außenpolitik der Weimarer Republik in der Tradition Stresemanns" bewahrt habe. Karl-Eckhard Hahn gelangt indes zu einer gegenteiligen Schlußfolgerung und bewertet die vorbehaltlose Westbindung Adenauers als Traditionsbruch.

Bevor ich auf diese Debatte näher eingehe, möchte ich zunächst einmal um des besseren Verständnisses willen die Entstehung und Bedeutung der Locarno-Verträge skizzieren.

Der damalige Reichsaußenminister Gustav Stresemann bemühte sich nach dem Abbruch des Ruhrkampfs und dem Rücktritt des deutschfeindlichen französischen Ministerpräsidenten Raymond Poincar um eine Aussöhnung mit seinen westlichen Nachbarn sowie um die Gewährleistung des Friedens in Europa. Zur Realisierung dieser Absichten schloß Stresemann im Oktober 1925 im Schweizer Kurort Locarno mit seinen beiden Kollegen aus Frankreich und Belgien einen sogenannten Garantiepakt ab, der durch verschiedene Schiedsabkommen ergänzt wurde. Dabei verpflichteten sich die vertragschließenden Teile zur "Aufrechterhaltung des sich aus den Grenzen zwischen Deutschland und Belgien und zwischen Deutschland und Frankreich ergebenden territorialen Status quo, die Unverletzlichkeit dieser Grenzen, wie sie durch den in Versailles am 28. Juni 1919 unterzeichneten Friedensvertrag oder in dessen Ausführung festgesetzt sind". Stresemann behielt sich damit eine friedliche Veränderung der deutschen Ostgrenze vor.

Mit diesen Verträgen konnte sich das Deutsche Reich endgültig aus der außenpolitischen Isolierung befreien und wieder im "Kreis der führenden europäischen Mächte" Platz nehmen.

Bereits vier Wochen vor der Außenministerkonferenz äußerte sich Stresemann in einem Brief an den ehemaligen Kronprinzen Wilhelm über die grundsätzlichen Ziele seiner Außenpolitik. Darin bezeichnete er als wesentliche Aufgabe "die Korrektur der Ostgrenzen: die Wiedergewinnung von Danzig, vom polnischen Korridor und eine Korrektur der Grenze in Oberschlesien. Im Hintergrund steht der Anschluß von Deutsch-Österreich."

Diese Absichten lassen darauf schließen, daß Stresemann ernsthaft Großmachtambitionen hegte und eventuell sogar eine "Vorherrschaft Deutschlands in Europa" anstrebte.

Die Locarno-Tradition erhält jedoch erst durch den 1926 paraphierten deutsch-russischen Freundschaftsvertrag (Berliner Vertrag) einen tieferen Sinn. In diesem Abkommen verpflichtet sich Deutschland zur Neutralität, falls Rußland in einen Krieg mit dritten Mächten verwickelt würde. Stresemann wollte damit auch einer einseitigen Westorientierung entgegenkwirken.

Der damalige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer kritisierte die Locarno-Verträge wiederholt als Schaukelpolitik und lehnte vor allem den Berliner Vertrag kategorisch ab.

Der Mythos von der frühen Westbindung

Andreas Rödder weist anhand zahlreicher weiterer Beispiele nach, daß Adenauer und Stresemann gerade in den Tagen des Ruhrkampfs zumeist konträre Positionen vertraten und bewertet ihr Verhältnis zueinander als "argumentativen Chiasmus".

Während der damalige Reichsaußenminister auf eine Revision des Versailler Vertrages drängte und demzufolge den Bruch mit Frankreich für unvermeidlich hielt, zeigte Adenauer Verständnis für die weitgefaßten französischen Sicherheitsbedürfnisse.

Rödder widerspricht ferner der These Karl-Dietrich Erdmanns, wonach Adenauer bereits während seiner Amtszeit als Kölner Oberbürgermeister außenpolitische Konzeptionen entwickelt hatte, die er als Bundeskanzler schließlich realisierte.

Erdmann bezieht sich dabei auf Adenauers Pläne zur Schaffung eines westdeutschen Bundesstaats, der eine eigene Verfassung und Verwaltung erhalten und durch eine "Verflechtung der rheinisch-westfälischen, luxemburgischen und lothringischen Schwerindustrie" seine ökonomische Potenz gewährleisten sollte. Dieser bezeichnete seinen sogenannten Rheinbundesstaatsplan jedoch selbst lediglich als "Verzweiflungsschritt in höchster Not", der von Stresemann allerdings abgelehnt wurde. Als sich das Reich während des Ruhrkampfs am Rande einer Katastrophe befand, waren keine ausgereiften außenpolitischen Konzeptionen gefragt, sondern lediglich Krisenmanagement. Außerdem unterbreitete Adenauer seine Vorschläge erst, nachdem die Stadt Köln direkt in Mitleidenschaft gezogen worden war, und legte sie nach der Bewältigung der Ruhrkrise ad acta.

Hieraus ergibt sich nun zweierlei: zum einen lassen die aufgezählten Argumente Rödders keinen kausalen Zusammenhang zwischen den außenpolitischen Visionen Adenauers im Jahr 1923 und der 1949 eingeleiteten Westbindung erkennen. Andererseits vertraten Adenauer und Stresemann in existentiellen Fragen der internationalen Politik zumeist einander diametral entgegengesetzte Standpunkte.

Fazit

Vergleicht man nun die Außenpolitik Stresemanns mit der Westintegration Adenauers, so liegt der entscheidende Unterschied in der jeweiligen Auffassung von der geographischen Bedeutung Deutschlands. Während Stresemann durch die Fortsetzung der "klassischen Mitteleuropakonzeption" Bismarcks unter Berücksichtigung der legitimen sowjetischen Sicherheitsbedürfnisse (schon damals hieß der Sowjetführer Stalin; Anm. d. Verf.) eine vernünftige Balance zwischen Ost und West bewahren wollte, betrachtete Adenauer die unwiderrufliche Westverankerung der Bundesrepublik als einzige Garantie außenpolitischer Stabilität. Man kann Stresemann jedoch keinesfalls eine naive Haltung gegenüber der UdSSR vorwerfen, da er sich bereits während des Kaiserreichs als betont nationaler Politiker profiliert hatte und auch als Außenminister der Weimarer Republik keinerlei prosowjetische Sympathien erkennen ließ.

Rainer Zitelmann erinnert in diesem Zusammenhang an den Journalisten Paul Sethe, der Stresemann in seinem 1966 erschienenen Buch "Öffnung nach Osten" treffend charakterisierte. Dieser habe nicht nur westliche Optionen wahrgenommen, sondern auch freundschaftliche Bande zur UdSSR geknüpft, "obwohl ihm der Bolschewismus unheimlich war. Der Staatsmann in ihm war stärker als der Bewunderer westlichen Gedankengutes. Für ihn stand die außenpolitische Notwendigkeit höher als die Wünsche seiner westlichen Freunde."

Insofern habe Stresemann einerseits die Zugehörigkeit seines Landes zur abendländischen Kultur nie in Frage gestellt, andererseits aber den Unwägbarkeiten der geopolitischen Mittellage Deutschlands durch seine Balancepolitik Rechnung getragen. In Anbetracht der außenpolitischen Tendenzwende nach 1949 warf Sethe Adenauer rückblickend vor, dieser habe das Erbe Stresemanns "verschleudert" und sei dem Irrtum erlegen, "die geographische Lage Deutschlands gleichsam von der Karte wischen zu können. Die alte Aufgabe Deutschlands, Mittler zu sein zwischen Ost und West, wurde verleugnet. Das Bekenntnis zu ihr wurde als ‘Neutralismus’, als eine Art politischer Unzucht verfemt."

Karl-Eckhard Hahn bezeichnet den Antagonismus zwischen Locarno-Politik und Westintegration zurecht als "Streit der außenpolitischen Traditionen", der nach 1949 zuungunsten Stresemanns entschieden wurde. Christian Hacke, der (wie oben bereits dargelegt) die Westbindung Adenauers gewissermaßen als Fortsetzung der Außenpolitik Stresemanns begreift, läßt dabei jedoch einige wesentliche Gesichtspunkte unberücksichtigt. Die Locarno-Tradition darf dabei nicht allein auf den 1925 unterzeichneten Garantiepakt reduziert werden, sondern erhält durch den Berlin-Vertrag von 1926 erst ihre eigentliche Bedeutung.

Gerade diese Balancepolitik aber geißelte Adenauer, wie ebenfalls bereits erwähnt wurde, als Schaukelpolitik. Schließlich beabsichtigte der Bonner Bundeskanzler keineswegs ein Wiedererstarken der Bundesrepublik zur europäischen Großmacht. Eine Würdigung Adenauers unter Berufung auf Gustav Stresemann ergibt deshalb ein schiefes Bild.

Jakob Kaiser, Kurt Schumacher, Gustav Heinemann. Alternativkonzepte zur Westbindung in der Adenauer-Ära

Innerparteiliche Opposition: Jakob Kaiser und die Brückentheorie

Nicht Adenauer, sondern sein wichtigster innerparteilicher Kontrahent Jakob Kaiser versuchte durch konkrete außenpolitische Optionen unmittelbar an die Tradition Bismarcks und Stresemanns anzuknüpfen und anhand der sogenannten Brückentheorie eine begründete Alternative zur frühen Westbindung zu entwickeln.

Aus Anlaß seines 100. Geburtstages erschienen 1988 zwei umfangreiche Quellensammlungen über Jakob Kaiser. Der "wohl vergessenste Politiker nach dem Zweiten Weltkrieg" erhielt insbesondere nach dem Fall der Berliner Mauer wachsende Aufmerksamkeit in der zeitgeschichtlichen Forschung. Obwohl seine Biograpie auch heute noch von zahlreichen Historikern als "die Geschichte eines politisch Gescheiterten" angesehen wird, so liefert sie doch einen "Beleg dafür, daß auch ein anderer Weg hätte begangen werden können - im Interesse aller Deutschen."

In diesem Sinn wehrt sich auch Rainer Zitelmann gegen die "oftmals übliche aufdringlich-volkspädagogische ‘Zeigefinger-Geschichtsschreibung’, die den Leser im Kleide angeblich eindeutiger wissenschaftlicher Befunde darüber belehrt, daß der damals beschrittene Kurs der Westintegration der bestmögliche und einzig denkbare gewesen sei"

Die durchaus vorhandenen Alternativen zur außenpolitischen Konzeption Adenauers, die im nun folgenden Kapitel vorgestellt werden, erscheinen nach der Wiedervereinigung in einem anderen Licht. Während Kurt Schumacher und Gustav Heinemann jedoch erst nach Konstituierung der Bundesrepublik mit eigenen Initiativen die innenpolitische Diskussion belebten, ließ Jakob Kaiser bereits 1946 mit seiner Brückentheorie die Öffentlichkeit aufhorchen.

Perzeption Kaisers nach Kriegsende

Obwohl Jakob Kaiser ebenso wie Konrad Adenauer ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus gewesen war, leitete er aus dem Zusammenbruch des Dritten Reiches jedoch völlig andere Schlußfolgerungen hinsichtlich der zukünftigen außenpolitischen Orientierung eines neuen deutschen Staats ab. Während Adenauer schon unmittelbar nach Kriegsende eine unwiderrufliche Westverankerung als einzig mögliche Konsequenz aus der verhängnisvollen Vergangenheit erschien, sah Kaiser die historische Mission Deutschlands darin, eine Brückenfunktion zwischen Ost und West auszuüben, um der geographischen Lage in der Mitte Europas Rechnung zu tragen. Diesen Gedanken erläuterte er auf einer Vorstandssitzung am 13.02.1946 in Berlin:

"Mir scheint nach allem für Deutschland die große Aufgabe gegeben, im Ringen der europäischen Nationen die Synthese zwischen östlichen und westlichen Ideen zu finden. Wir haben Brücke zu sein zwischen Ost und West, zugleich aber suchen wir unseren eigenen Weg zu gehen ... Die europäische Welt muß einmal wieder zur Ruhe kommen."

Da sich Kaiser bis zum Untergang des Nationalsozialismus "als antifaschistischer Widerstandskämpfer ... geradezu einseitig prowestlich orientiert" hatte, mutet sein Bekenntnis zu einem eigenen deutschen Weg nach dem Ende des Krieges auf den ersten Blick etwas erstaunlich an. Doch gerade seine Beteiligung an der Verschwörung des 20. Juli 1944 blieb ihm als Schlüsselerlebnis in Erinnerung, das sein Vertrauen in die Kooperationsbereitschaft der Westmächte zutiefst erschüttert hatte. Seiner Ansicht nach habe das Attentat auf Hitler deutlich gemacht - "und das ist wichtig für unsere Erkenntnis heute, daß eine Opposition von außen sich in einem Polizeistaat schwerlich durchsetzen kann. Damals haben verantwortliche Führer des Auslandes die Bedeutung einer deutschen Opposition mißachtet. Sie haben ihr keine reale Chance ... gegeben. Hätten diese Politiker - von denen mancher heute noch Verantwortung trägt - schon in den Jahren 1933-1939 den Nationalsozialismus durchschaut, dann hätten sie mit Hilfe der deutschen Opposition den ganzen zweiten Weltkrieg mit allen seinen tragischen Folgen verhindern können."

Diese herbe Enttäuschung war 1950 noch in ihm lebendig. Man mag es deshalb als Ironie des Schicksals bezeichnen, daß Kaiser im Mai 1945 ausgerechnet durch die Sowjets aus seinem Berliner Kellerversteck befreit wurde.

Roberta Metzger weist in ihrer Magisterarbeit über Jakob Kaiser darauf hin, daß seine Perzeption der Situation Deutschlands nach dem Krieg zum Teil auch durch die Weimarer Zeit beeinflußt wurde. Bereits als Geschäftsführer der christlichen Gewerkschaften versuchte Kaiser in den 20er Jahren seine Brückentheorie als Basis zur Zusammenarbeit mit den freien Arbeitnehmervertretungen innenpolitisch anzuwenden. Seinem damals bereits in Umrissen erkennbaren Ideal, Christentum und Sozialismus in einer Synthese zu vereinen, fügte Kaiser nach dem Zweiten Weltkrieg durch seine Forderung nach einem eigenen deutschen Weg eine außenpolitische Komponente hinzu. In dieser Hinsicht diente ihm Gustav Stresemann als Vorbild, der sich ebenso wie Kaiser nach der Abdankung Wilhelms II. von einem überzeugten Monarchisten zum "Vernunftrepublikaner" gemausert hatte und durch eine auf Verständigung und Ausgleich gerichtete Außenpolitik die Mittlerrolle Deutschlands als "ehrlicher Makler" zwischen Ost und West in der Tradition Bismarcks fortzusetzen gedachte. Kaiser fühlte sich also der "klassischen Mitteleuropakonzeption" verpflichtet, die einer einseitigen Westorientierung zuwiderlief.

Diese Option beinhaltete die grundsätzliche Dialogbereitschaft gegenüber den Bevollmächtigten der SBZ als immanenten Bestandteil. Hinter dieser Haltung darf jedoch keineswegs eine heimliche Sympathie mit den Zielen des Sowjetkommunismus vermutet werden. Denn ebenso wie Stresemann hatte Kaiser bereits in der Weimarer Republik dezidiert gegen den Bolschewismus Stellung bezogen und wollte auch in Zukunft "die Klarheit unseres antimarxistischen Willens Tag für Tag in mannhafter Auseinandersetzung" unter Beweis stellen. Er fühlte sich aber "aus der Not der Zeit heraus" verpflichtet, zur Wahrnehmung seiner gesamtdeutschen Verantwortung das Gespräch mit dem bestimmenden politischen Kräften der Zone zu suchen, um als "Wellenbrecher des dogmatischen Sozialismus und seiner totalitären Tendenzen" einer kontinuierlich wachsenden Konfrontation mit dem Ostblock entgegenzuwirken und seine "Bereitschaft zu ehrlicher Zusammenarbeit auch mit dem Osten" zu demonstrieren. Dabei konzedierte er Stalin Lernfähigkeit und vertraute sogar darauf, "daß sich Rußland mehr und mehr der Idee der Toleranz erschließen wird."

Deutschland konnte seiner Ansicht nach "nicht dadurch gesunden, daß man der marxistischen Gefahr ein liberales System entgegenstellt. Und dann zwischen beiden eine Mauer errichtet."

Diese Äußerung spiegelt die tiefe Sorge über die sich bereits abzeichnende Spaltung Deutschlands wider. Deshalb appellierte er an seine Landsleute, "die politische Teilung mit aller Kraft zu verhindern. Ich bin heute wie gestern überzeugt, daß sie verhindert werden kann, wenn die Gesamtheit der Deutschen es will. Wenn sie alle, aber auch alle Mittel aufwenden, um dieses Unglück ... zu verhindern."

Die Beschwörung der deutschen Einheit zieht sich wie ein roter Faden durch die meisten Reden Kaisers nach 1945. Dieses Herzensanliegen bildete bis zu seinem Tod den Maßstab seines politischen Denkens und Handelns.

Politisches Wirken zwischen 1945 und 1948: Kurs gegen die Westbindung

Nachdem Jakob Kaiser am 20.12.1945 die Führung der CDUD übernommen hatte, schwang er sich in den beiden folgenden Jahren "zum markantesten Politiker der CDU" sowie "zur nationalen Symbolgestalt im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit" auf und integrierte das Gedankengut seiner Brückentheorie in das Programm seiner Partei. Während die Union in der SBZ unter Kaiser "merklich nach links" abdriftete und den Dialog mit der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) pflegte, schloß Adenauer als CDU-Vorsitzender in der britischen Besatzungszone jegliche Form der Verständigung mit der UdSSR aus. Der kompromißlosen Westorientierung des späteren Bundeskanzlers setzte Kaiser bereits zu diesem Zeitpunkt eine klare Alternative entgegen. Da das besiegte Deutschland auch nach 1945 zwar in Besatzungszonen "„eingeteilt“ ..., aber noch nicht zwischen Ost und West politisch „auf“geteilt" war, leitete er daraus folgende Erkenntnis ab:

"Wer die Gesundung Deutschlands will, kann nur von der Tatsache ausgehen, daß Deutschland zwischen Ost und West gelagert ist. Die Konsequenz dieser schicksalhaften, aber auch aufgabenreichen Lage ist nicht das Entweder-Oder eines West- oder Ostblocks, sondern das Sowohl-als-Auch der Verständigung und des Ausgleichs zwischen den Völkern und die Gesundung aus eigenem Geist heraus."

Demzufolge durfte es keinen östlich oder westlich orientierten Politiker geben: "Es darf nur deutsche Politiker geben, die ihren Willen auf den deutschen Zusammenhalt gerichtet haben."

Diese eindeutige Haltung Kaisers zeugt von einer strikten Ablehnung der politischen Bindung an den Westen. Er rügte die "Dienstbeflissenheit der deutschen Vertreter gegenüber der für sie zuständigen Besatzungsmacht" und warf ihnen vor, durch die ökonomischen Verlockungen einer westeuropäischen Gemeinschaft die Teilung Deutschlands in Kauf zu nehmen.

Der Adressat dieser unmißverständlichen Kritik war in erster Linie Konrad Adenauer. Insofern kann man die CDUD der ersten Nachkriegsjahre durchaus als parteiinterne Opposition gegen die geplante Westintegration bezeichnen, obwohl es unübersehbare Gemeinsamkeiten zwischen Adenauer und seinem Gegenspieler gab. So bejahte auch Kaiser grundsätzlich die Vereinigten Staaten von Europa in Form einer "europäischen Schicksalsgemeinschaft, deren Notwendigkeit das Erdbeben des letzten Jahrzehnts mit beispielloser Deutlichkeit bewiesen hat", und zwar "um der geistigen Werte, um der Kultur des Abendlandes willen."

Diese Frage stand für ihn aus der Sicht des Jahres 1946 allerdings nicht auf der Tagesordnung, da sie nur auf der Basis eines wiedervereinigten Deutschlands gelöst werden konnte. Die Schaffung eines einheitlichen europäischen Staatengebildes betrachtete er im Gegensatz zu Adenauer nicht "als Ausweg aus der deutschen Verzweiflung", sondern als Konsequenz aus der "Bereitschaft zu engster europäischer Gemeinschaft aus einem gesunden und geläuterten Selbstbewußtsein heraus".

Diese Forderungen waren 1946 keineswegs nur utopische Gedankenspiele eines politischen Phantasten. Dies räumt selbst Christian Hacke ein, der nicht gerade zu den Bewunderern Kaisers zählt. Hackes Darstellung zufolge glaubte die "Mehrheit der Deutschen ... unmittelbar nach 1945 wieder an die klassische Mitteleuropa-Tradition ... anknüpfen zu können."

Zudem fand die Brückenkonzeption in James Byrnes einen prominenten Befürworter. Der damalige US-amerikanische Außenminister forderte am 06.09.1946 in seiner Stuttgarter Rede eine langfristige Entmilitarisierung und Neutralisierung des gesamten deutschen Territoriums, um den Sicherheitsinteressen der UdSSR Genüge zu leisten. Damit verhalf Byrnes den Visionen Kaisers auf westalliierter Seite zur Salonfähigkeit und ermutigte den CDUD-Vorsitzenden gleichzeitig dazu, seine politische Linie weiterhin zu verfolgen. Die Ablehnung des amerikanischen Angebots durch den sowjetischen Außenminister Molotow und die wenige Monate später erfolgte Ablösung Byrnes’, mit der sich die containment-Strategie endgültig Bahn brach, deuteten bereits zum ersten Mal das bevorstehende Scheitern Kaisers an.

Das Scheitern des Brückenkonzepts

Die tiefere Ursache für das vollständige Scheitern der „Brückentheorie“ liegt darin, daß die wachsenden Differenzen zwischen den Westalliierten und der UdSSR durch die Zementierung der Ost-West-Konfrontation und den Beginn des Kalten Krieg es in der politischen „Praxis“ spätestens im Sommer 1947 „unüberbrückbar“ geworden waren. Indem es Kaiser „allen“ Besatzungsmächten recht machen wollte, konnte er jedoch „keiner“ Seite gerecht werden und geriet im Lauf des Jahres 1947 immer mehr zwischen die Mühlsteine. Da er den Marshallplan als wirtschaftliche Notwendigkeit für die SBZ goutiert hatte, diffamierte ihn die SMAD als Agenten des "amerikanischen Monopolkapitals". Nachdem sich Kaiser in seiner Berliner Oppositionsrede gegen die Gleichschaltungspraktiken der SED in der Ostzone gewandt hatte, war er bei den Sowjets noch stärker in Mißkredit geraten und als Verhandlungspartner untragbar geworden. Seine Absetzung durch die SMAD schien nur mehr eine Frage der Zeit zu sein.

Kaiser galt jedoch auch auf westlicher Seite nicht mehr als vertrauenswürdig. Adenauer sah in seinem innerparteilichen Kontrahenten einen Steigbügelhalter der stalinistischen Diktatur und brachte ihm auf dem zweiten Reichstreffen der CDU in Königstein im Februar 1947 eine entscheidende Niederlage bei, indem er die Wahl Kaisers zum außenpolitischen Sprecher der gesamtdeutschen Union verhinderte. Damit sorgte er dafür, daß die Brückentheorie in seiner eigenen Partei nicht mehrheitsfähig wurde. Kaisers Vorschlag, die Zentrale der CDU nach Berlin zu verlegen, fand bei den Delegierten ebenfalls keinen Anklang. Werner Conze resümiert daher in seiner heute noch maßgeblichen Kaiser-Teilbiographie den entscheidenden innerparteilichen Sieg Adenauers:

"Kaiser als unerwünschter Rivale und Berlin als gefährlicher Ort gesamtdeutscher Tendenzen und möglicher russischer Einflüsse waren außenpolitisch für die CDU ... ausgeschaltet."

Tilman Mayer bedauert diese Entwicklung hingegen als "Niederlage dieser deutschen Selbstbehauptungsstrategie", die eine "vorschnelle Westbindung" präjudizierte.

Mayer glaubt außerdem eine wesentliche Ursache für das Scheitern der Brückenkonzeption in der Zerstrittenheit der frühen Opposition gegen Adenauer zu erkennen und richtet seine Kritik dabei auf Kurt Schumacher, der aufgrund parteitaktischen Kalküls und persönlicher Eitelkeiten alle wohlmeinenden Angebote Kaisers zu einer parteiübergreifenden Politik im Interesse „aller“ Deutschen verschmähte. Die Gemeinsamkeiten dieser beiden Rivalen hätten bei weitem ausgereicht, um eine "Große Koalition" zwischen der Sozialdemokratie und der CDUD zur Übernahme gesamtdeutscher Verantwortung auf die Beine zu stellen. Statt dessen nannte Schumacher die CDUD einen "Hort der Reaktion" und zerstörte durch wüste Tiraden gegen Kaiser jede Basis einer vertrauensvollen Zusammenarbeit.

Da Kaiser auch nach dem Scheitern der Londoner Außenminister-Konferenz und dem Beginn des Kalten Krieges weiterhin unbeirrbar einen eigenen politischen Kurs steuerte, wurde er zwangsläufig in einen aussichtslosen "Drei-Fronten-Krieg" gegen die überwiegende Mehrheit seiner Parteifreunde, die Sozialdemokratie und zuletzt gegen die SED verwickelt und mußte sich nicht zuletzt auch aufgrund der Übermacht seiner Gegner geschlagen geben. Da sich Kaiser trotz aller Distanz zu den Westmächten auch von den Sowjets nicht vereinnahmen ließ, wurde er im Dezember 1947 von der SMAD als CDU-Vorsitzender in der SBZ abgesetzt. Einen Monat später stellte er schließlich resignierend fest, daß er mit seinem Latein am Ende war:

"Wir haben Zusammenarbeit geübt bis an die Grenzen des Möglichen ..., d.h. bis zu dem Punkt, wo ein weiterer Schritt Preisgabe der Grundsätze der Partei, der Gesetze, unter denen wir stehen, bedeutet hätte."

Kaiser war also bereit, in seinem unermüdlichen Kampf für die Verhinderung der Teilung Deutschlands in den ersten Nachkriegsjahren auch den Sowjets ein Höchstmaß an Entgegenkommen zu gewähren, das einer Selbstverleugnung ziemlich nahe kam. Zu keinem Zeitpunkt ließ er sich jedoch vor den Karren der SED spannen; stets blieb er seinem Prinzip treu, die deutsche Einheit niemals durch den Verrat an der Freiheit zu erkaufen.

Die Beurteilung Kaisers vor und nach der Wiedervereinigung

In der Beurteilung der Brückentheorie scheint bereits das Jahr 1988 einen Wendepunkt zu markieren. Obwohl damals der Fall der Berliner Mauer noch längst nicht abzusehen war, warnte Christian Hacke in einer Rezension zur Kaiser-Edition seines Kollegen Tilman Mayer vor einer "neuen Dolchstoßlegende" sowie einer "Stilisierung Kaisers zum gesamtdeutschen Helden". Hacke meldete damit massive Vorbehalte gegen die wohlwollende Bewertung Mayers an, der die Schlagworte "Phantasie, Vision, Illusion, Utopie" als Synonyme für das Konzept Kaisers nicht mehr gelten lassen will und schwerpunktmäßig moralische Kategorien als Maßstab für die Würdigung des umstrittenen CDU-Politikers heranzieht. Ohne die außer Zweifel stehenden Verdienste Adenauers schmälern zu wollen, möchte Mayer scheinbare oder faktische Niederlagen höher als den "Erfolg von Opportunisten" eingestuft wissen. Seiner Auffassung zufolge wäre es um "die charakterliche Stabilität einer politischen Kultur ... schlecht bestellt, erinnerte sie sich nur an ihre vermeintlich Erfolgreichen." Ohne Adenauer beim Namen zu nennen, stellt Mayer in diesem Zusammenhang die Deutschlandpolitik des ersten Bonner Bundeskanzlers zur Disposition: "Wer den Antikommunismus 1945 an die erste Stelle seiner politischen Wertung setzte, der konnte die deutsche Nation nicht zusammenhalten." Kaiser verkörpere daher "eine Kontinuität des Denkens", das mit den Begriffen "„deutsch, christlich, demokratisch, sozial“" umschrieben werden könne.

In ihrer 1990 verfaßten Magisterarbeit lehnt sich Roberta Metzger, welche die Wiedervereinigung damals bereits vor Augen hatte, deutlich an die Argumentationslinie Mayers an. Dabei nimmt sie "jüngste Ereignisse" zum Anlaß, "in Jakob Kaiser nicht nur den nationalen Idealisten, der ein utopisches Deutschlandkonzept vertrat, zu sehen, sondern ihn eher als hoffnungsvollen Optimisten darzustellen, dessen Beschwörungen kein Gehör fanden, weil die Entwicklungen in der Weltpolitik gegen seine Konzeption liefen und nicht, weil sie irreal waren."

Nach der Wiedervereinigung kann aus der neuesten Zeitgeschichtsforschung keine klare Tendenz pro oder contra Kaiser abgeleitet werden, allenfalls eine differenziertere Betrachtung seiner politischen Leistung. Die heutige Beurteilung des "Brückentheoretikers" aus gesamtdeutscher Perspektive rückt Kaiser also keineswegs in ein grundsätzlich anderes Licht; vielmehr sind nach wie vor diejenigen Maßstäbe ausschlaggebend, die der eigenen Bewertung zugrundeliegen. Wer wie Zitelmann in Kaiser vor allem den "Streiter für Deutschland" erblickt, wird dessen Verdienste in den Vordergrund seiner Würdigung stellen. Demgegenüber sehen nüchterne Analytiker der damaligen Machtkonstellation wie Hacke auch heute noch eine tiefe Kluft zwischen Kaisers phantasievollen Ansprüchen und der politischen Wirklichkeit.

Hacke, der nach 1990 die Lebensleistung Adenauers in den Mittelpunkt seiner publizistischen Tätigkeit gerückt hat, wird die von mir bereits zitierte Beurteilung Kaisers als "Geschichte eines politisch Gescheiterten", der "aus der Perspektive von 1988 ... ein politisches Schattenboxen vollführt zu haben" scheint, inzwischen wohl kaum zurückgenommen haben. Auch aus der Sicht des Jahres 1993 resümiert Hacke, daß es nach "dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Rassenwahn, nach der Ermordung von Millionen Menschen in Europa ... weder in West noch in Ost einen Bedarf an deutscher Brückendiplomatie" gegeben habe und weist im selben Atemzug darauf hin, Kaiser habe die Ausgangslage Deutschland von 1945/46 mit der unvergleichbaren Situation des zusammengebrochenen Kaiserreichs von 1918/19 in völliger Verkennung der Realitäten miteinander gleichgesetzt. Der Fall Kaiser liefert für Hacke das beste Beispiel, daß "eine Politik, die Neutralität und Einheit für Deutschland erringen sollte, nicht durchführbar" war. Demgegenüber ehrt Albert Kraus Jakob Kaiser anläßlich seines 30. Todestages (Mai 1991) als einen "der markantesten deutschen Politiker der Nachkriegszeit, dessen persönlicher Mut und lautere Gesinnung über die eigene Partei hinaus als beispielhaft empfunden wurde."

Trotz seiner teilweisen konträren politischen Auffassung sei er sich mit Adenauer zumindest darin einig gewesen, "daß ohne die westliche Freiheit die staatliche Einheit aller Deutschen wertlos würde." Als besonderen Verdienst hebt Kraus Kaisers leidenschaftliches Engagement für die Wiedervereinigung hervor, das trotz der sich vertiefenden Spaltung Deutschlands nie nachgelassen habe. Dadurch "sorgte er unermüdlich mit Wort und Tat dafür, daß die Einheit nicht ganz aus dem Blickfeld der wohlstandsverwöhnten Bundesbürger geriet."

Kraus räumt aber auch ein, Kaisers politisches Wirken habe "im Zeichen eines mehrfachen Scheiterns" gestanden. Im Gegensatz zu Hacke vergißt Kraus allerdings nicht, die aufgezählten Mißerfolge mit der Reintegration des Saargebiets in die Bundesrepublik zu verrechnen und wertet dies als den "Triumph der nationalen Wiedervereinigungspolitik" Jakob Kaisers. Dieser habe es zudem zeit seines Lebens verstanden, "an einem für richtig erkannten Ziel - allen Schwierigkeiten zum Trotz - festzuhalten, langen Atem zu beweisen und allen Versuchungen zu opportunistischen Wendemanövern zu widerstehen."

Die Brückentheorie findet in dieser Würdigung, die die Persönlichkeit Kaisers besonders genau erfaßt, jedoch keinerlei Erwähnung. Dessen ungeachtet sind bei Kraus Parallelen zur Argumentationslinie Tilman Mayers unübersehbar.

Nachdem Kaiser im Ringen um das bessere außenpolitische Konzept gegen Konrad Adenauer den Kürzeren gezogen hatte, ließ er sich in die Kabinettsdisziplin seines Kontrahenten als Minister für Gesamtdeutsche Fragen einbinden. Obwohl er einsehen mußte, daß seine Brückentheorie in der politischen Praxis zunächst einmal gescheitert war, blieb er seiner Idee eines wiedervereinigten, blockfreien Deutschlands weiterhin verpflichtet und provozierte durch seine oft unbequeme, zum Widerspruch neigende Haltung manchen Konflikt mit Adenauer. Insofern versucht Zitelmann zurecht die Behauptung Doering-Manteuffels zu widerlegen, wonach Kaiser lediglich "verhalten" gegen manche außenpolitische Entscheidungen Adenauers protestiert habe.

Nicht nur kraft seines Amtes, sondern aus ehrlicher Überzeugung profilierte sich Kaiser als kritischer Wegbegleiter der vorbehaltlosen Westbindung und verlor als "gesamtdeutsches Gewissen" zu keiner Zeit das Ziel der Wiedervereinigung aus den Augen. Zitelmann bescheinigt dem streitbaren Minister abschließend, einige spezifische Merkmale der internationalen Politik in den 50er Jahren richtig erkannt zu haben: Den zweifelhaften "Willen des Westens, sich für die deutsche Einheit einzusetzen, die Bedeutung eindeutiger Willenskundgebungen der Deutschen selbst" als unabdingbare Voraussetzung für die Wiedervereinigung sowie die Tatsache, "daß eine Lösung der deutschen Frage „gegen“ die Sowjetunion nicht zu erreichen sein wird."

Parlamentarische Opposition: Kurt Schumacher und die Möglichkeiten der Neutralität

Während der Name Jakob Kaiser meist nur in Fachkreisen historische Assoziationen weckt, erfreut sich Kurt Schumacher in breiten Schichten der Bevölkerung eines überdurchschnittlich hohen Bekanntheitsgrades. Nicht nur als Symbolfigur des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, sondern auch als charismatischer Führer der Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg hat Schumacher die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mitgestaltet und geprägt.

Im Rahmen der allgemeinen Beurteilung Schumachers wird oft übersehen, daß sich seine politischen Grundüberzeugungen mit den Prioritäten Adenauers leichter in Einklang bringen lassen, als dies bei oberflächlicher Betrachtung seiner Persönlichkeit den Anschein haben mag. Insofern kann zwischen der Wiedervereinigung und dem politischen Wirken Schumachers im Vergleich zu Kaiser ein engerer Zusammenhang geknüpft werden, wie im nun folgenden Kapitel zu zeigen sein wird.

Perzeption Schumachers nach Kriegsende

Etwa zehn Jahre nahezu ununterbrochenen qualvollen Leidens in verschiedenen Konzentrationslagern verstellten Schumacher nach Kriegsende keineswegs den Blick für die Realität. Während andere Widerstandskämpfer wie Erich Honecker nach 1945 ihr Heil im Kommunismus suchten, lag Schumacher nichts ferner als die Kooperation mit der UdSSR. Allein aus diesem Grund lehnte er - in seltener Einmütigkeit mit Adenauer - die Brückentheorie kategorisch ab. Seiner Ansicht nach lief die außenpolitische Konzeption Kaisers auf eine "Option für den Osten" hinaus und zeugte von einem erheblichen "Mangel an Denkfähigkeit, an Tatsachensinn und an politischer Phantasie."

Aufgrund seiner bisherigen politischen Erfahrungen erwies sich Schumacher als resistent gegen jede Form von Totalitarismus. Die bei jeder sich bietenden Gelegenheit beschworene Gegnerschaft zur Sowjetdiktatur korrespondierte dabei mit einem uneingeschränkten Bekenntnis zur rechtsstaatlich-parlamentarischen Demokratie westlicher Prägung. Obwohl er die zutiefst demokratische Grundhaltung mit Adenauer teilte, darf seine scharfe Verurteilung des Stalinismus nicht mit dem Antikommunismus seines Gegenspielers auf eine Stufe gestellt werden. Denn während Adenauer darüber hinaus auch entschieden gegen jede Art des Sozialismus Stellung bezog, vertrat sein Kontrahent in erster Linie einen "national motivierten Anti-Imperialismus", befürwortete jedoch grundsätzlich eine sozialistisch orientierte Politik in Deutschland und Europa.

Dazu fehlten in der SBZ aber alle Voraussetzungen, da die dogmatisch begründete Politik der UdSSR die von Schumacher angestrebten Ideale wie Freiheit und Gleichheit nicht realisierte, sondern pervertierte. Der Begriff "Antikommunismus" erweist sich deshalb in Anwendung auf die politischen Überlegungen Schumachers als nicht zutreffend und irreführend. Rainer Zitelmann stellt dabei zurecht fest, daß sich die Angriffe des SPD-Vorsitzenden gegen den sowjetischen Expansionismus richteten, der unter dem Deckmantel des Kommunismus praktiziert wurde und die demokratische Grundordnung des Westens bedrohte. Die Sowjetführung strebte nach seiner Auffassung in keiner Weise die Verwirklichung des Sozialismus an, sondern hatte sich die gewaltsame Durchsetzung eines "nationalistischen Absolutismus" zum Ziel gesetzt. Der Kreml praktiziere daher keine "weltrevolutionäre Politik, sondern imperialistische Nationalpolitik". Den KPD-Funktionären im eigenen Land warf Schumacher vor, "daß sie russische Patrioten geworden und im tiefsten Grund ihnen Deutschland und der Sozialismus sekundäre Angelegenheiten geworden sind."

Seine an Schärfe kaum zu überbietenden Stellungnahmen gegen den sowjetischen Totalitarismus legen die Vermutung nahe, Schumacher habe aufgrund der Alternativlosigkeit umso entschiedener einer Westbindung das Wort geredet. Doch trifft eher das Gegenteil auf das Verhalten des SPD-Vorsitzenden zu. So konstatiert Christian Hacke, daß "kein anderer prominenter deutscher Politiker ... gegenüber den Alliierten so aggressiv, so anmaßend und höhnisch" aufgetreten sei. Dies erscheint auf den ersten Blick paradox, kann aber durchaus logisch begründet werden.

Schumacher fühlte sich vor allem von den USA und Frankreich im Kampf gegen den Sowjetimperialismus im Stich gelassen, da diese Staaten "die Situation in Deutschland und in ihren eigenen Ländern bezüglich des Kommunismus ... noch falsch beurteilt" haben, "als wir die Situation schon lange richtig erkannt und die kämpferischen Konsequenzen daraus gezogen hatten." Die deutsche Sozialdemokratie sei 1945 noch allein auf weiter Flur gewesen, als "jeder Alliierte die Sowjets noch als seinen Verbündeten gegen die Deutschen betrachtet hat." Schumacher führte die Teilung Deutschlands deshalb im Wesentlichen darauf zurück, "daß die Amerikaner und Engländer geglaubt haben, zusammen mit dem russischen Diktatursystem die Demokratie in ein Deutschland der Diktatur einführen zu können."

Obwohl die containment-Strategie Kennans bereits Anwendung gefunden hatte und der Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und der UdSSR bereits in vollem Gange war, perzipierte Schumacher noch im Februar 1949 eine sträfliche Naivität und Konzeptionslosigkeit des Westens gegenüber der sowjetischen Gefahr: "So etwas von Verständnislosigkeit vom Wesen der Diktatur und des Kommunismus, wie sie der Westen zeigt, ist für jemanden, der sein ganzes Leben lang mit Kommunisten und Nationalsozialisten hat herumraufen müssen, nicht zu begreifen."

Schumacher verhöhnte die Außenpolitik der Westalliierten als "Taktik des Fortwurstelns und eines gewissen Zutrauens an die alleinseligmachenden Konsequenzen seines Lebensstils und seiner Ideen." Diese Äußerung spiegelt in eindrucksvoller Weise seine Aversion gegenüber dem "american way of life" wider und macht zugleich auch seine ambivalente Haltung gegenüber den soziopolitischen Grundlagen und systemischen Spezifika des westlichen Parlamentarismus deutlich: Einerseits hob Schumacher vor dem Bundestag das klare Bekenntnis der deutschen Sozialdemokratie zum "menschlichen und kulturellen Stil des Westens" hervor, das "unserem geistigen Herkommen und unserer Art, zu denken und zu fühlen, angemessen ist."

Auf der anderen Seite aber verwahrte er sich gegen die vorbehaltlose Übertragung westlicher Strukturen auf die deutsche Demokratie, die im Gegensatz zu den USA sozialistisch legitimiert sei. Die Bundesrepublik dürfe sich demnach das kapitalistische System nicht aufoktroyieren lassen. Maßgeblich für diese Perzeption Schumachers waren nicht zuletzt seine schmerzlichen Erfahrungen in der Spätphase der Republik in Bezug auf die Kumpanei zwischen der Großindustrie und der NSDAP sowie seine daraus abgeleitete Schlußfolgerung, der Kapitalismus in Deutschland sei aufgrund seiner Affinität zum Nationalsozialismus historisch diskreditiert. Schumacher grenzte sich also nicht nur scharf von der UdSSR ab, sondern wollte auch eine klare Distanz zu den Westmächten gewahrt wissen. Die Bundesrepublik dürfe weder ins Schlepptau der Sowjets geraten noch zu einem bloßen Befehlsempfänger westalliierter Politik degradiert werden. Jede Art von Anpassung an eine Seite war ihm zuwider. "Westorientierung ja - Verwestlichung nein" - so oder so ähnlich könnte man die Haltung Schumachers zum Westen auf die einfachste Formel bringen.

Schumacher beobachtete bei seinen Landsleuten eine kollektive depressive Grundstimmung, die unmittelbar aus der Hypothek des zugrundegegangenen Dritten Reiches resultierte. Schuldkomplexe, Zukunftsängste und Orientierungslosigkeit veranlaßten deshalb zahlreiche Deutsche dazu, einen geeigneten Ausweg aus ihrer psychischen Notsituation zu suchen. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung neigte in dieser Zwangslage zu einer Idealisierung der Westmächte und versuchte demzufolge, durch eine Überidentifikation vor allem mit den Amerikanern sein schlechtes Gewissen zu beruhigen.

Obwohl Schumacher als lebendes Mahnmal gegen den Nationalsozialismus das moralische Recht gehabt hätte, mit der großen Masse ehemaliger Mitläufer ins Gericht zu gehen, beklagte er im Gegenteil die weithin sichtbare Zerknirschungsmentalität der Deutschen und wollte eine neue Aufbruchsstimmung erzeugen. Er wollte daran mitwirken, "unserem Volke ein gutes und gesundes Selbstbewußtsein zu geben. Ein Selbstbewußtsein gleich fern dem hysterischen und unverschämten Nationalismus der Vergangenheit, der auch heute noch so unter der Decke geistert, und der jammervollen Kriecherei der Leute mit dem Ergebenheitsdiener" erachtete Schumacher als Grundvoraussetzung für die Durchführung einer vernünftigen eigenen Politik. Man dürfe sich daher nicht einreden lassen, "daß die schlechtesten Deutschen die besten Europäer und Internationalisten" seien. Schumachers Plädoyer wider den deutschen Selbsthaß gründete auf seiner Einsicht, daß nur "das Bekenntnis zum eigenen Volke, seinem Wesen, seinen Lebensinteressen und seinen Wünschen" eine tragfähige Basis für die Kooperation mit anderen Staaten bilden könne. Die Sozialdemokratie werde deshalb nur eine Politik vertreten, welche die elementaren Interessen des gesamten deutschen Volkes berücksichtige und "die deutsche Einheit ... zum Maßstab aller Dinge" erkläre. Indirekt machte er deutlich, daß eine Wiedervereinigung in den Grenzen von 1937 zu erfolgen habe und betonte dabei, daß "Deutschland als Ganzes ... keinen Moment aufgehört hat, als Staat zu existieren!"

Anselm Doering-Manteuffel charakterisiert Schumacher deshalb als "Reichspatriot der Tradition seit 1871." Adenauer hingegen sei ein "westdeutscher Patriot" gewesen, "ihm fehlte die unbedingte Bindung an das Reich".

Schumachers Magnettheorie

Im Folgenden möchte ich daran erinnern, daß die sogenannte Magnettheorie, die oft zu Unrecht Konrad Adenauer gutgeschrieben wird, als erstes von Kurt Schumacher entwickelt und proklamiert wurde. Obwohl sich beide dieser Lehrmeinung bedienten, interpretierte sie ein jeder nach seiner eigenen Wahrnehmung.

Schumacher hatte im Januar 1947 die Bildung der Bizone ausdrücklich begrüßt und erblickte in dem amerikanisch-britischen Zusammenschluß "die einzige Möglichkeit, unser Volk vor dem Verhungern zu schützen ... Aber dieses Zweizonenabkommen wird seine inneren Entwicklungsmöglichkeiten am ehesten dann zeigen, wenn sein Magnetismus auch auf die beiden anderen Zonen wirkt." Aller Wahrscheinlichkeit nach ging der SPD-Vorsitzende bereits zu diesem frühen Zeitpunkt von einer weiteren Verschärfung der Ost-West-Konfrontation aus und befürchtete demzufolge auch die Zementierung der Teilung Deutschlands. Deshalb setzte er sein gesamtes Vertrauen in die ökonomische Attraktivität des Westens und hoffte, daß eine baldige wirtschaftliche Konsolidierung in den westlichen Besatzungszonen eine unwiderstehliche Sogwirkung auf die SBZ ausüben und damit die beste Voraussetzung für eine Wiedervereinigung schaffen würde. Nachdem Schumacher diesen Gedanken zu Beginn des Jahres 1947 nur andeutungsweise artikuliert hatte, konkretisierte er seine Theorie wenige Monate später in einer Rede vor dem SPD-Parteivorstand:

"Die Prosperität ..., die sich auf der Grundlage der bizonalen Wirtschaftspolitik erreichen läßt, kann den Westen zum ... Magneten machen. Es ist realpolitisch vom deutschen Gesichtspunkt auch kein anderer Weg zur Erringung der deutschen Einheit möglich als die ökonomische Magnetisierung des Westens, die ihre Anziehungskraft auf den Osten so stark ausüben muß, daß auf die Dauer die bloße Innehabung des Machtapparates dagegen kein sicheres Mittel ist. Es ist gewiß ein schwerer und vermutlich langer Weg."

[...]

Ende der Leseprobe aus 146 Seiten

Details

Titel
Die Beurteilung der Westverbindung der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
1.5
Autor
Jahr
1995
Seiten
146
Katalognummer
V185284
ISBN (eBook)
9783668270916
ISBN (Buch)
9783869430058
Dateigröße
1175 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
beurteilung, westverbindung, bundesrepublik, deutschland, wiedervereinigung
Arbeit zitieren
Thomas S. Fischer (Autor:in), 1995, Die Beurteilung der Westverbindung der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/185284

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