Existentialistische Positionen in Richard Wrights "The Man Who Lived Underground" und "The Outsider"


Magisterarbeit, 1999

105 Seiten, Note: 1


Leseprobe

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Existentialistische Philosophien: Camus und Sartre

3. Black Boy Richard Wright

4. Analyse von "The Man Who Lived Underground"

5. Von "The Man Who Lived Underground" zu The Outsider

6. Analyse von The Outsider

7. Drei moderne Außenseiter: Raskolnikow, Meursault und Cross Damon

8. Wrights Entwicklung vom Naturalismus zum Existentialismus

9. Der amerikanische Existentialismus

10. Schlußbetrachtung

11. Bibliographie


1. Einleitung

 

I'm a rootless man but neither psychologically distraught nor in any way  particularly pertubed because of it. [...] I like and even cherish the state of  abandonment, of aloneness; it does not bother me, indeed it seems to be the  natural, inevitable condition of man, and I welcome it.

 

- Richard Wright, White Man, Listen! (1957)

 

Richard Wright, geboren 1908 in Mississippi, hat als erster den Weg des unterdrückten Schwarzen aus den rattenverseuchten Slums zum geistig bewußten Menschen vorgelebt und dargestellt. Sein Werk ist ein beständiger Versuch, seine Kindheits- und Jugenderlebnisse zu verarbeiten, Zeugnis zu geben von der weißen Herrschaft im Süden und der Angst seiner Landsleute.[1]

 

     Auf  Wrights Gesamtwerk lastet ein Alptraum von Erinnerungen, der eine Wirklichkeit ans Licht bringt: die Realität der Schwarzamerikaner, in der Gewalt und Schrecken Teil ihrer Existenz sind. Wright hat seinen Zeitgenossen die bittere Wahrheit erzählt. Daher gebührt ihm in der Literaturkritik des 20. Jahrhunderts ein besonderer Platz: Als Pionier der schwarzamerikanischen Literatur machte er es der amerikanischen Gesellschaft unmöglich, sich weiterhin selbst zu betrügen.[2]

 

     Die Parallelen zwischen der schwarzamerikanischen protest literature und Jean-Paul Sartres existentialistischer litterature engagée sind deutlich. Sartre besteht in Was ist Literatur? (1947) darauf, daß der Roman für die Interessen der Arbeiterklasse eintreten solle. Sprechen heißt Handeln: Der engagierte Schriftsteller hat laut Sartre gewählt, die Welt zu enthüllen und so zu wirken, daß keiner die Welt ignorieren und sich in ihr unschuldig nennen kann.[3]

 

     Als Schwarzer in den USA, konfrontiert mit dem Zusammenbruch des amerikanischen Mythos der Gleichheit, war Wright fasziniert von Themen wie Isolation und Entfremdung, Freiheit und Revolte, der Absurdität der Welt und der scheinbar sinnlosen Existenz des Menschen. Er wußte aus eigenen Erfahrungen, daß Schwarze in einer feindlichen weißen Welt auf sich allein gestellt waren. Die Ängste der fiktionalen Charaktere Jean-Paul Sartres gehörten zum schwarzamerikanischen Alltag. Wrights Erfahrungen führten zu seiner Suche nach universellen Werten. Er wünschte sich Zusammenhalt und Freundschaft innerhalb der menschlichen Gemeinschaft.[4]

 

     Der zweite Weltkrieg zerstörte Wrights Vorstellungen von menschlichen Werten, er distanzierte sich von kommunistischen und marxistischen Perspektiven und war das erste Mal in seinem Leben ohne eine Ideologie. In diesem entscheidenden Moment seiner Karriere kam sein Interesse für den französischen Existentialismus auf.

 

     Trotzdem ist Richard Wrights früher Existentialismus nicht auf seine Kontakte zu den französischen Existentialisten zurückzuführen. Wright erfuhr im Frühjahr 1946 erstmalig von Camus, etwa zur gleichen Zeit traf er in den USA das erste Mal Jean-Paul Sartre. Der Roman Native Son (1940), die Autobiographie Black Boy (1944) und besonders die lange Kurzgeschichte "The Man Who Lived Underground" (1944) drücken jedoch bereits eine existentialistische Weltanschauung aus, die eng mit der schwarzamerikanischen Erfahrung der Unterdrückung und Isolation verbunden ist. Die Aussagen Sartres, Camus’ und Simone de Beauvoirs verstärkten seine eigenen pessimistischen Gedanken lediglich, denn sie wandten sich ähnlichen Problemen zu. Wright erkannte, daß Angst nicht B-L-A-C-K buchstabiert wird.[5]

 

     In dem Essay "How Bigger was Born" schreibt Wright:

 

But we do have in the Negro the embodiment of a past tragic enough to appease the hunger of even a James; and we have in the opression of the Negro a shadow athward our national life dense and heavy enough to satisfy even the gloomy broodings of a Hawthorne. And if Poe were alive, he would not have to invent horror; horror would invent him.[6]

 

     Der Ursprung von Wrights Metaphysik liegt nicht nur im Existentialismus, sondern auch in der amerikanischen Literatur von Poe bis Melville, mit ihren Erfahrungen des Bösen, der Schuld und Unschuld.[7] Ein früher Einfluß war auch Henry Louis Mencken, auf dessen Werke Prejudices und A Book of Prefaces Wright in Black Boy verweist. Mencken übte amerikanische Selbstkritik an der Unwirklichkeit Amerikas.[8] In all diesen Autoren mag Wright eine literarische Vorlage gefunden haben, aber wichtiger ist die Motivation, die in seinem eigenen Leben begründet ist.

 

Wright's existentialism as it was to be called by a later generation of French authors, was not an intellectually "learned" process (although he had been reading Dostoevsky and Kierkegaard in the thirties) but rather the lived experiences of his growing years.[9]

 

     Am 30. Juli 1947 verließ Richard Wright die USA und ging nach Paris. Dort pflegte er enge intellektuelle Kontakte mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. In Frankreich schrieb Wright auch seinen philosophischen Roman The Outsider (1953), der explizite Parallelen zu den Ideen Sartres und Camus' aufweist. Zuvor hatte Wright etwa sieben Jahre lang Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger, Sartre, de Beauvoir,  Jaspers, Dostojewskij und Camus studiert. Bei der Lektüre erkannte Wright, wie nah er dieser Philosophie war - sein ganzes Leben gewesen war. Sein Leben als Schwarzer in Amerika war absurd gewesen, hatte aus Angst und Verzweiflung bestanden. Diesen Erfahrungen konnte nur die existentialistische Philosophie eine Bedeutung verleihen.[10] Bereits 1945 hatte Wright überlegt:

 

What new values of action or experience can be revealed by looking at Negro life through alien eyes or under the lenses of new concepts? [...] What would life on Chicago's South side look like when seen through the eyes of a Freud, a Joyce, a Proust, a Pavlov, a Kierkegaard? [...] Will the Negro, in the language of André Malraux, find a meaning in his humiliation, make his slums and his sweat-shops his modern cathedrals out of which will be born a new consciousness that can guide him toward freedom?[11]

 

     The Outsider erfuhr überwiegend negative Reaktionen. Die meisten Kritiker glaubten, daß Wright nur glänzte, wenn er aus Protest und Wut schrieb, seine Erfahrungen als Kind in Mississippi und als junger Mann in  Memphis, Chicago und New York zu Papier brachte. Wiederholungen charakterisieren die Literaturkritik zu Richard Wright.[12] Kaum jemand hat der Entwicklung von Wrights Gesamtwerk Beachtung geschenkt. Michel Fabre kommentiert:

 

[...] we must not forget that Richard Wright was attempting more than entertainment or even political enlightenment. Uncertainly at times, but more often quite consciously, he was grappling with a definition of man. Although his solitary quest ended prematurely and did not allow him to find one, his achievement as a writer and a humanist makes him, in the Emersonian sense, a truly "representative man" of our time.[13]

 

My essay attempts to establish, precisely, how little Wright's fiction was influenced by J.P. Sartre, Albert Camus, or Simone de Beauvoir, the French existentialists he knew best and with whom he consorted in the late 1940s. Existentialism as an ideology remained for him a sort of transition from Communism to growing preoccupation with Third World liberation and African nationalism.[14]

 

     Mit seiner schonungslosen Direktheit hatte Wright unerlaubtes Territorium betreten: "Although his criticisms of government policy and the black press were as justified as they were courageous, America was going to resent his overstepping the limits [...]."[15]

 

     Zielscheibe der Kritiker von The Outsider waren besonders Cross Damons didaktische Monologe, in denen Wright eigene Ideen ausdrückte. Auch Jean-Paul Sartre schrieb seine Philosophie in seine Werke hinein, einzelne Textstellen seiner philosophischen Essays hat er fast wörtlich in seine Romane oder Theaterstücke übernommen.[16] Im Unterschied zu Wright mit Erlaubnis der Literaturkritik.

 

     Im zweiten Kapitel dieser Arbeit werden die existentialistischen Positionen Camus’ und Sartres einführend erläutert.

 

     Das dritte Kapitel knüpft erste Bezüge zu Wrights Biographie und seinen in Black Boy geschilderten Erfahrungen. Hier soll deutlich werden, daß Wright trotz vielfältiger Einflüsse seine persönliche Vision des Lebens präsentierte und einen eigenen black existentialism vertrat.

 

     Im vierten Kapitel wird die Kurzgeschichte "The Man Who Lived Underground" auf thematische Parallelen zu den französischen Existentialisten, insbesondere zu Albert Camus, untersucht. Als Interpretationsschlüssel dienen Der Mythos von Sisyphos (1942) und Der Mensch in der Revolte (1951). Aufgezeigt wird, wie Richard Wright das Absurde, die Revolte, die absolute Freiheit und andere existentialistische Gedanken  eigenständig literarisch verarbeitet hat.

 

     Das fünfte Kapitel schildert Wrights Gründe für den Schritt ins Pariser Exil sowie seine ersten Jahre in Frankreich bis zur Veröffentlichung von The Outsider.

 

     Auch bei der Analyse von The Outsider im sechsten Kapitel werden zunächst Gemeinsamkeiten mit den Vertretern des Existentialismus herausgestellt. Unterstrichen werden soll jedoch Wrights eigene Perspektive: Er vereinigt existentialistische Positionen, gibt naturalistische Positionen nicht ganz auf, rechnet mit dem Marxismus ab und greift der psychoanalytischen Perspektive von Savage Holiday (1954) voraus. Obwohl "The Man Who Lived Underground" unbestritten Wrights Meisterwerk ist, darf The Outsider nicht unterbewertet werden.

 

     Daher wird The Outsider im siebten Kapitel in einen größeren Zusammenhang gestellt. Verglichen werden drei moderne Außenseiter: Fjodor Dostojewskijs Protagonist Raskolnikow aus Schuld und Sühne, Albert Camus’ Meursault aus Der Fremde und Richard Wrights Cross Damon.

 

     Das achte Kapitel behandelt ein wesentliches Merkmal von Wrights Fiktion: den parallelen Gebrauch von naturalistischen und existentialistischen Positionen. Dieses Charakteristikum ist wichtig für die Einordnung von The Outsider in Wrights Gesamtwerk. 

 

     Im neunten Kapitel wird dargestellt, daß die existentialistische Weltanschauung nicht uneingeschränkt französisch ist. Viele amerikanische Schriftsteller haben lange vor Jean-Paul Sartre die Absurdität der menschlichen Existenz erkannt. Diese existentialistische Perspektive ist in der amerikanischen Geschichte verwurzelt.

 

     In mehreren Kapiteln sollen Verweise auf frühere Werke Wrights - "How Bigger was Born," "I Tried To be a Communist," (1944) "Introduction" in Black Metropolis (1945), "Blueprint for Negro-Writing" (1937) und Uncle Tom's Children (1938) - aufzeigen, daß bestimmte philosophische Positionen im Denken Wrights immer vorhanden waren und sich wie ein roter Faden durch sein Gesamtwerk ziehen. Zusätzliche Hinweise auf Gemeinsamkeiten mit Sören Kierkegaard und Fjodor Dostojewkij veranschaulichen den universellen Charakter des existentialistischen Gedankenguts, das Zeit und Raum überschritten hat.

2. Existentialistische Philosophien: Camus und Sartre

 

Eine Schwierigkeit der Analyse von existentialistischen Positionen sind die verschiedenen Philosophen, die unter dem Begriff Existentialisten zusammengefaßt werden. Es gibt keine einheitliche existentialistische Denkweise oder Definition.[17] Das Werk Jean-Paul Sartres hat dem Existentialismus zu weltweiter Beachtung verholfen, Albert Camus teilte jedoch nicht alle Ansichten Sartres. Auch die existentialistische Position Richard Wrights kann im Kontext der französischen Denker analysiert, betrachtet und verglichen werden kann: Sein existentialistisches Werk in eine bestimmte, bereits vorhandene Kategorie einzuordnen, ist jedoch unmöglich. Im folgenden sollen wesentliche Grundsätze Camus' und Sartres vorgestellt werden, vor deren Hintergrund "The Man Who Lived Underground" und The Outsider analysiert werden.

2.1 Das Bild des Absurden bei Albert Camus

 

Camus hat sich wiederholt geweigert, als Existentialist bezeichnet zu werden. Da er an kein System glaubte, lehnte er auch philosophische Systeme ab. Ihn interessierte lediglich, wie der Mensch leben soll, nachdem Friedrich Nietzsche den Tod Gottes verkündet hat.[18] Da Camus jedoch Überzeugungen formuliert hat, die generell als existentialistisch gelten, wird er in dieser Arbeit als Vertreter dieser Philosophie behandelt.

 

     In Der Mythos von Sisyphos stellt Albert Camus das menschliche Verlangen nach Einheit in einem chaotischen Universum dar. Dieses Verlangen nach Einheit steht in Kontrast zu der Realität, die der Mensch vorfindet. Camus definiert dieses Mißverhältnis von Intention und Welt als das Absurde.[19]

 

     Camus hat wiederholt betont, daß das Gefühl der Absurdität kein Privileg der Philosophen sei, sondern für jeden Menschen Bedeutung habe. Das Gefühl der Absurdität kommt erstmalig auf, wenn die Kette der mechanischen Handlungen aufgebrochen wird und der Mensch sich in der daraus resultierenden Leere fragt: Warum? In diesem Moment entsteht Bewußtsein, und es offenbart sich dem Menschen ein bedeutungsloses Bild des Lebens.[20]    

 

     Sobald er seine eigene absurde Situation erkannt hat, erlangt der absurde Mensch Freiheit. Das Erkennen des Absurden gleicht dem Erwachen aus dem schlafähnlichen Zustand der täglichen Routine und ist die Grundlage für absurde Freiheit. Eine Art Seligkeit fällt auf den absurden Menschen herab, da er in der Lage ist, die Mißstände der Welt zu erkennen und zu ertragen. Sisyphos, Camus’ Held des Absurden, ist durch seine Erkenntnis mehr als nur frei: „Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.“[21]

 

     Mit der Wahrnehmung des Absurden als konstanter Erfahrung hat der Mensch schließlich einen Grund zu leben gefunden, die frustrierte Suche nach Wahrheit ist beendet. Der absurde Held erlangt Erfüllung, weil er eine Wahrheit verteidigt. Absurdität wird  zur Leidenschaft, und der absurde Held muß zeigen, ob er mit dieser Leidenschaft leben kann. Absurdität wird zur Herausforderung, die den absurden Helden nie zur Ruhe kommen lassen wird, so wie der gequälte Sisyphos seine Aufgabe niemals unterbrechen kann.[22]

 

     Trotzdem ist das Absurde ein Symbol der Hoffnung, und Camus bestätigt konsequent, daß das Leben trotz aller Unverständlichkeiten lebenswert sei. Die Charaktere in Camus’ Die Pest verleihen ihrem Leben einen Sinn, indem sie den hoffnungslosen Kampf gegen die Seuche aufnehmen.[23] In allen Werken Camus’ gibt es Bilder von der Liebe zum Leben und dem glücklichen Sicheinsfühlen mit der Welt und dem Augenblick.[24]

 

     Die absurde menschliche Situation führt nicht zur Verzweiflung, sondern dient als Ausgangsposition, um ein neues ethisches System aufzubauen. Das Erkennen des Absurden führt zur metaphysischen und politischen Revolte. Camus’ exemplarische Figuren für den Revoltierenden sind der Eroberer und der Abenteurer.

 

     Camus ist sich kontinuierlich des Widerspruchs der ewigen Natur der Welt und der zeitlich begrenzten Existenz des Menschen bewußt. Ohne den Glauben an Gott und an die Unsterblichkeit erscheint die menschliche Existenz sinnlos. Daraus resultiert ein Gefühl der Besorgnis und des Fremdseins.[25]

 

     Camus wehrt sich gegen den Glauben an ein Jenseits, da diese Hoffnung für ihn eine Flucht in eine Traumwelt bedeutet, die jedes irdische Problem löst. Für den absurden Helden Camus’ bedeutet das Leben alles, während der Tod der Inbegriff der Absurdität ist. Camus’ Helden wollen eine Weltordnung außerhalb des Christentums erschaffen, die auf der Revolte gegen die Ungerechtigkeit basiert.[26] „Das Absurde ist die Sünde ohne Gott.“[27]

 

     Wenn traditionelle Werte keine Bedeutung mehr haben, sind Gewalt und Mord weder richtig noch falsch. Nur Gerechtigkeit und Brüderlichkeit haben für Camus Bedeutung, und er sieht die Revolte als Mittel, um alle Menschen zu vereinigen. Camus ist kein Nihilist: Er glaubt an den Menschen und an den Sinn des Handelns. Der Mensch muß jedoch im Interesse seiner Mitmenschen kämpfen und versuchen, eine Bindung zwischen allen Menschen herzustellen, selbst wenn sich als  kommunikationsunfähig erweisen und scheitern wird.[28]

 

2.2 Die Grundsätze Jean-Paul Sartres

 

Jean-Paul Sartre betrachtet den Menschen auf der Suche nach einer neuen Moral als absolut frei: Er ist sogar zur Freiheit verdammt. Aus dieser absoluten Freiheit erwächst eine beängstigende Verantwortung: Keine Regeln, keine Werte und kein Gott können den Menschen von seiner verantwortungsvollen Wahl befreien. Die Existenz geht der Essenz voraus: Der Mensch ist das, was er aus sich macht. Er definiert sich selbst durch seine Handlungen.[29] Die damit verbundene Verantwortung beschränkt sich nicht auf das Individuum allein, sondern weitet sich auf die gesamte Menschheit aus. Denn selbst in seiner Einsamkeit ist der Mensch untrennbar mit seinen Mitmenschen verbunden. Doch gibt es keine funktionierende Kommunikation: Zwischenmenschliche Beziehungen sind durch Konflikte gekennzeichnet. Dieses Problem behandelt Sartre zum Beispiel in Geschlossene Gesellschaft (1945).

 

     Sartre unterscheidet zwischen zwei Seinsweisen, dem Sein der Dinge (en-soi) und dem Dasein des Menschen (pour-soi). Die Dinge sind definierbar, der Mensch nicht. Der Mensch steht als Individuum in der Dialektik von Sein und Nichts.[30] Das An-sich-Sein ist mit sich identisch, das Für-sich-Sein ist das Bewußtsein, das in Distanz zu sich und abhängig von Entscheidungen ist. Ein Mensch ist zum Beispiel blond und ein Meter achtzig groß, er ist jedoch nicht von Natur aus ein Feigling oder ein Lügner.

 

     Einer der häufigsten Einwände gegen die Literatur Sartres ist, daß sie das Negative betone und keine lebbare Wirklichkeit biete. Sie führe immer ein Scheitern vor und wecke Ekel vor der Existenz. Doch auch die Ethik Sartres ist nicht nihilistisch. In Ist der Existentialismus ein Humanismus? (1946) behauptet Sartre, daß der Existentialismus optimistisch sei. Auch das gleichnamige Leitmotiv aus Der Ekel (1938) hat eine positive Bedeutung: Es zeigt, was die menschliche Existenz in ihrem Wesen aufleuchten läßt.[31] Der Mensch, der an ein geordnetes Universum und an eine vorbestimmte menschliche Natur glaubt, macht sich des Selbstbetrugs, des mauvaise foi, schuldig. Dieses Konzept stellt Sartre ausführlich in dem philosophischen Essay Das Sein und das Nichts (1943) dar.

 

     Mauvaise foi entsteht, wenn der Mensch seine Möglichkeit der freien Wahl ablehnt und vor der Daseinswirklichkeit ausweicht. Dieser Selbstbetrug ist die negative Antwort auf das Erkennen des Absurden. Aus Angst vor der absoluten Freiheit und der daraus resultierenden Verantwortung fliehen viele Menschen in den Selbstbetrug. Sartre benutzt das Beispiel des Antisemiten, der Antisemit wird, um eine solide und festgelegte Identität zu haben.

 

     Sartre gilt als Vertreter einer litterature engagée. Um authentisch zu leben, muß sich der Mensch dem Leben verpflichten, sich engagieren. Engagement ist die kontinuierliche Auseinandersetzung mit der absurden Situation, der vermeintlichen Bedeutungslosigkeit des täglichen Lebens. Nach Sartre muß eine Philosophie gelebt werden, um Sinn zu machen.

 

     Für den Atheisten Sartre gibt es keinen religiösen Glauben. Die Nicht-Existenz Gottes führt zu absoluter moralischer Freiheit: Werte wie gut und böse haben ihre konventionelle Bedeutung verloren. Der absurde Mensch erschafft sich neue Werte und verleiht ihnen durch seine Handlungen Bedeutung.[32]

 

     Camus und Sartre weichen in ihrer Definition des Absurden etwas voneinander ab: Sartre betrachtet die Irrationalität der menschlichen Existenz als konstante Realität, während Camus das Absurde auf die Beziehung des Menschen zur Welt beschränkt. Für Camus hat das Absurde seinen Ursprung weder in der Natur der Welt, noch in der Natur des Menschen, sondern in der Konfrontation von beiden. Sartre geht es darum, dieses Gefühl der Entfremdung zu überwinden, während Camus das Absurde als positive Leidenschaft betrachtet.

 

2.3 Richard Wright und die französischen Existentialisten

 

Ohne von direkten Einflüssen zu sprechen, läßt sich objektiv feststellen, welche Werke der französischen Existentialisten Wright bekannt waren. Dazu zählen Camus’ Vorlesung "The Human Crisis," (1946-47) Caligula (1944), Die Pest (1947) und Der Fremde (1942), die Wright zwischen 1946 und 1948 las.[33]

 

     Die Biographien Camus’ und Wrights ähneln sich: Was Camus auf staatlicher Ebene beobachtet hatte, nämlich die Verbrechen des Naziregimes, hatte Wright auf individueller Ebene ähnlich erfahren. Beide suchten aufgrund dieser Erfahrungen nach einem Sinn in einer scheinbar sinnentleerten Welt. Für beide war Absurdität keine ontologische Erkenntnis, sondern das Ergebnis der ungerechten Behandlung einer unterdrückenden Gesellschaft. Wrights Verzweiflung resultierte aus dem Untergang des amerikanischen Traums der Gleichheit. Er arbeitete auf politischer Ebene mit Camus zusammen, bis dieser sich im Algerienkrieg auf die Seite der französischen Kolonialisten stellte und ihr Kontakt für immer abbrach.

 

     Jean-Paul Sartre war für Wright der führende Vertreter des Existentialismus. Zwischen 1949 und 1951 las er Sartres Romane und Theaterstücke sowie die philosophische Abhandlung Ist der Existentialismus ein Humanismus?. Erst 1957 las er die englische Ausgabe von Das Sein und das Nichts. Sartres Metaphysik war daher etwas unklar für ihn und von geringerer Bedeutung als seine sozialpolitischen Essays.[34]

 

     Wright schätzte den Menschen Sartre mehr als den Schriftsteller. Sie arbeiteten überwiegend auf politischer Ebene zusammen. Beide kamen aus unterdrückten Gruppen: Sartre war Jude, Wright Schwarzer. Überspitzt formuliert können Sartres Erlebnisse aus der Kriegsgefangenschaft mit denen Wrights in den amerikanischen Südstaaten zu Beginn des Jahrhunderts verglichen werden. Sartre definiert diese Erfahrungen als Extremsituation.[35] Ihr historischer Hintergrund führte Wright und Sartre zur gleichen Philosophie: Beide sahen in der existentialistischen Perspektive einen Weg aus der eigenen Entfremdung. Michel Fabre schrieb: "Wright was surprised and delighted that Sartre associated his own experience of oppression, the Nazi occupation of France, with that of all oppressed and colonized peoples."[36]

 

     Doch während sich Wright von politischen zu moralischen Anliegen bewegte, entwickelte sich Sartre entgegengesetzt. 1952 gab er in dem Artikel "Les Communistes et la paix" seine neutrale Position zum Kalten Krieg auf und bekannte sich zu einer pro-kommunistischen Haltung. Als ihre politischen Meinungen auseinandergingen, löste sich auch die Freundschaft zwischen Wright und Sartre auf.

 

     Vor diesem politischen Hintergrund ist es fast ironisch, The Outsider als Werk zu betrachten, das Sartres Einfluß deutlich zeige. Wrights bösartigster Angriff auf die Kommunistische Partei geschah zu einer Zeit, in der Sartre sich offen zu dieser Ideologie bekannte.[37] Möglich ist jedoch, daß die Lektüre von Sartres Die Wege der Freiheit Wright in seiner Wahl bestätigten, lange philosophische Erwägungen in eine Kriminalgeschichte einzufügen.[38] Auch Sartres Erzählung verliert sich in räsonierenden Ausschweifungen des allwissenden Erzählers.[39]

 

     Kaum ein Literaturwissenschaftler, der Wrights existentialistische Positionen analysierte, hat zwischen der Philosophie Camus’ und den Thesen Sartres unterschieden. Wichtig ist jedoch: Wrights frühe Positionen in "The Man Who Lived Underground" erinnern stark an Camus. Später zeigt The Outsider, daß Wrights metaphysische Besorgnis sich verstärkte, und daß der späte Wright wie Sartre glaubte, Angst und Entfremdung seien universelle Lebensbedingungen. Andererseits verweist Wrights Thesenroman auf Revolte und appelliert an die menschliche Solidarität. Wright pendelte also zwischen den  Positionen Camus’ und Sartres, bevor er sich dem Existentialismus ganz abwandte, hin zur Psychoanalyse und zum Panafrikanismus.

 

     Michel Fabre zieht die Möglichkeit hinzu, daß Wright die meisten Gemeinsamkeiten mit einer weiteren Vertreterin des französischen Existentialismus teilte: Simone de Beauvoir. Da de Beauvoir etwas Englisch sprach und es gut verstand, war ihr Austausch häufiger und Wright wußte mehr über ihr Werk und ihre Meinungen als über Sartres und Camus’.[40]

3. Black Boy Richard Wright

 

Wrights Leben und Werk sind untrennbar miteinander verbunden. Seine Biographie ist notwendig für das Verständnis seines tragischen Werks: "Writing for him grew out of experiences, real, and vicarious: things happened and he wrote about it."[41] William Gardner Smith zitiert Wright: "‘It can't be said that I write books, books happen with me. I become deeply involved with certain problems. The way I attack them and think through is by writing books.’"[42] Auch James Baldwin betont: "One writes out of one thing only - one's own experience. [...] This is the only real concern of the artist, to recreate out of the disorder of life that order that is art."[43]

 

     Wrights Werk symbolisiert seine Suche nach dem Sinn des Lebens. Native Son, The Outsider, Savage Holiday, The Long Dream (1958) und Lawd Today (1963) enthüllen seine Weltanschauung zum Zeitpunkt der Entstehung. Jeder Lebensabschnitt Wrights war von Ideen und Philosophien bestimmt, an die er glaubte und die er in sein literarisches Werk aufnahm. Als Marxist, Humanist, Existentialist, Freudianist und Afrikanist vereint sein Werk die bedeutendsten Ideen des 20. Jahrhunderts.[44] Wrights philosophische Odyssee entwickelte sich entsprechend seiner geographischen: Von Mississippi nach Chicago und zum Marxismus, nach New York und Paris zum Existentialismus, nach Afrika und zum Panafrikanismus.[45]

 

     Die existentialistische Position des Außenseiters war Wrights eigene Erfahrung: Der Bruch mit Familienmitgliedern, Freunden und der Kommunistischen Partei führten zu seiner andauernden Verfremdung. Wright fühlte sich von seiner Mutter abgelehnt, seine erste Ehe zerbrach, seine letzten Lebensjahre verbrachte er von seiner zweiten Ehefrau getrennt. Nach und nach zerstritt er sich mit seinen besten Freunden.[46]

 

     In gewissem Sinne übernahm Wright das Denken der Seventh-Day-Adventists seiner Kindheit in Mississippi. Sie verneinten die Realität und wandten sich einem Gelobten Land zu. Dieses Konzept einer anderen Welt, einer Art Utopia, ist das philosophische Fundament Wrights, das seine lebenslange Faszination von abstrakten Systemen der Realität erklärt.[47] 

 

     Die fiktionale Autobiographie Black Boy ist der Schlüssel zu Wrights existentialistischen Positionen. Sie schildert eine einsame, angsterfüllte, verzweifelte Kindheit, die zu einem großen Teil mit Wrights Kindheitserfahrungen in Mississippi übereinstimmt. Entfremdung, Revolte und Freiheit sind zentrale Themen des autobiographischen Romans.[48] Wenige Zitate sollen exemplarisch darstellen, daß persönliche Erfahrungen Wright prägten und zum "birthright existentialist"[49] machten. Die Existenz seiner Fiktionen ging ihrer Essenz voraus.

 

Ought one to surrender to authority even if one believed that authority was wrong? If the answer was yes, then I knew that I would always be wrong, because I could never do it. Then how could one live in a world in which one's mind and perceptions meant nothing and authority and tradition meant everything?[50] 

 

I was a non-man, something that knew vaguely that it was human but felt that it was not. [...] What I did feel was a longing to attack. But how? And because I knew of no way to grapple with this thing, I felt doubly cast out.[51]

 

I wanted a life in which there was a constant oneness of feeling with others, in which the basic emotions of life were shared, in which common memory formed a common past, in which collective hope reflected a national future.[52]

 

     Auch die atheistische Haltung Wrights resultiert aus seiner Kindheit. In Jackson, Mississippi, erklärte die Religion nicht die irrationale schwarze Existenz. Wright konnte nicht an ein Christentum glauben, das Liebe predigte und Haß praktizierte. "I believe that man, for good or ill, is his own ruler, his own sovereign, his own keeper."[53]

 

While listening to the vivid language of the sermons I was pulled toward emotional belief, but as soon as I went out of the church and saw the bright sunshine and felt the throbbing life of the people in the streets I knew that none of it was true and that nothing would happen.[54]

 

     Der Existentialismus ist kein philosophisches System, das man zu bejahen wählt. Diese Philosophie ist eine Stimmung, die aus den dringenden Lagen bestimmter Lebenssituationen entsteht. In Europa förderten die Erfahrungen des Kriegs und der Besatzung eine existentialistische Antwort. Black Boy beschreibt keine Kriegssituation, aber die konstante Bedrohung einer feindlichen und zerstörerischen Welt. Eine der ersten Erinnerungen Wrights ist, daß er bis zur Bewußtlosigkeit geschlagen wurde.[55]

 

     Einige Kritiker haben The Outsider als Fortsetzung von Black Boy gesehen: Der Thesenroman sei die autobiographische Zusammenfassung seiner geistigen Reise.[56] Durch sein Leben in ständig neuen Umwelten, überzeugt von wechselnden Weltanschauungen, stand Wright in andauernder Konfrontation mit der Welt. Er entdeckte das Absurde nicht nur, er lebte es. Auch Cross Damon, der Protagonist von The Outsider, erkennt diese Sisyphos-Aufgabe: "Why were some people fated, like Job, to live a never-ending debate between themselves and their sense of what they believed life should be?"[57]

 

     Wrights Austritt aus der Kommunistischen Partei mag ihn dazu veranlaßt haben, seine Erfahrungen mit politischen Bewegungen in einem Roman offenzulegen und seinen Protagonisten mit persönlichen Erkenntnissen auszustatten.[58] Autor und Romanfigur teilen auch die Liebe zur Literatur, obwohl Cross Damon selbst kein Schriftsteller ist. Viele ihrer favorisierten Autoren gleichen sich jedoch.[59] Außerdem waren sowohl Wright als auch Damon Postangestellte in Chicago. Auch die Schlußszenen von Black Boy und The Outsider ähneln sich: Sowohl Black Boy Richard als auch Cross Damon suchen die Verbindung der Menschen untereinander:

 

Humbly now, with no vaulting dream of achieving a vast unity, I wanted to try  to build a bridge of words between me and that world outside, that world which was so distant and elusive that it seemed unreal.[60]

 

"I wish I had some way to give the meaning of my life to others... To make a bridge from man to man..." (The Outsider, 562)   

4. Analyse von "The Man Who Lived Underground"

 

Richard Wrights lange Kurzgeschichte hat ihren Ursprung in Dostojewskijs Notes From Underground (1864).[61] Der Untergrundmensch ist ein Symbol für den wandernden, abgelehnten Menschen. "The Man Who Lived Underground" schildert ein existentialistisches Dilemma: Der Außenseiter versucht, sich selbst als menschliches Wesen zu bestätigen.[62] Die Situation des Protagonisten Fred Daniels spiegelt die aller Schwarzamerikaner wieder, die gleichzeitig Teil der amerikanischen Gesellschaft und von ihr ausgeschlossen sind. Der existentialistische Gehalt der langen Kurzgeschichte ist somit auch eine Stellungnahme zur Rassenfrage: Schwarze werden durch die weiße Vorherrschaft in eine Untergrundmentalität getrieben. Doch in Wrights Vorstellung werden sie ihre eigenen Werte finden und heraufkommen, um Weiße mit ihren Wahrheiten zu konfrontieren.[63]

 

     "The Man Who Lived Underground" markiert den Schritt vom Protestroman zur metaphysischen Parabel und greift der Philosophie von The Outsider voraus: der schwarzen Erfahrung als universellen Lebensbedingung.[64]

 

4.1 Die Kanalisationsanlagen

 

Die Kanalisationsanlagen einer modernen Stadt, in die Fred Daniels flüchtet, symbolisieren Verfall, Ziellosigkeit, Einsamkeit und Verzweiflung der Einwohner sowie aller Menschen.[65] Beschreibungen wie "the hot stench of yeasty rot," "the odor of rot,"[66] "a mass of debris," "his feet sloshing over the slimy bottom, his shoes sinking into spongy slop, the slate-colored water cracking in creamy foam against his knees," "a huge rat, wet with slime," (30) erschaffen eine düstere Atmosphäre, eine Welt des Ekels. Auch Sartres Der Ekel weckt, wie der Titel vorausnimmt, Ekel vor der Existenz. Dieser Ekel ist die Voraussetzung für den Menschen, sich der Sinnlosigkeit seiner Existenz bewußt zu werden.[67] Sartres Protagonist Roquentin erkennt, daß er allein ist und will diese Einsamkeit nicht akzeptieren - ein früher Bezug zu Daniels Entwicklung.

 

     In der surrealistischen Welt der Kanalisation sind Zeit und Raum verdreht, logische Beziehungen gibt es nicht mehr. Als Konsequenz erfährt Fred Daniels eine seltsame Entfremdung, nicht nur von seinen Mitmenschen, sondern auch von sich selbst und der Realität.[68] Die geheimen Plätze, von denen er die Gesellschaft beobachtet, sind fern der normalen Welt, gekennzeichnet durch Distanz und ein verzerrtes Zeitgefühl:[69] "everything seemed strange and unreal here," (29) "it seemed that he had traveled a million miles away from home," (31)

 

How long had he been down here? He did not know. This was a new kind of living for him; the intensity of feelings he had experienced when looking at the church people sing made him certain that he had been down here a long time, but his mind told him that the time must have been short. (33)

 

He broke into a musing laugh, feeling that he was reading of the doings of people who lived on some far-off planet. (60)

 

Daniels' Entfremdung von der Welt geht so weit, daß er sich für unsichtbar hält: "So used had he become to being underground that he thought that he could walk past the man, as though he were a ghost." (38) Aus dieser Entfremdung entsteht die Frage nach der eigenen Identität und nach persönlichen Werten. Außerdem wächst das Bewußtsein heran, das ein Erkennen der Absurdität des Lebens ermöglicht.

 

4.2 Kirchgänger und Kinobesucher

 

Daniels beobachtet eine Messe, in der die Gemeinde "Jesus, take me to your home above" (32) singt. Er hat das unerklärliche Gefühl, daß diese Menschen sinnlos beten. Angedeutet wird Daniels Entwicklung zu einem absurden Menschen, in dessen Weltbild der Bezug auf ein Jenseits fehlt. Wie Camus erkennt Daniels die Hoffnung auf eine bessere Welt als Flucht, als einen Selbstbetrug, mit dem an dieser Welt Verrat begangen wird. Daraus resultiert sein Gedanke, etwas "abysmally obscene" (32) zu beobachten.[70] Zuerst kann Daniels den Gesang hinter der Mauer nicht identifizieren, er hält ihn für ein schreiendes Baby oder eine Sirene (31), deutet ihn als Zeichen von Infantilismus und Schuld. Diese Annahme weist auf seine spätere Erkenntnis der angeborenen Schuld hin.[71]

 

     Bei einem weiteren unterirdischen Entdeckungsgang landet Daniels in einem Kino:

 

He stood in a box in the reserved section of a movie house and the impulse he had to tell the people in the church to stop their singing seized him. These people were laughing at their lives, he thought with amazement. They were shouting and yelling at the animated shadows of themselves. (38)

 

Die Kinobesucher erinnern an Platons Höhlengleichnis aus dem Staat:[72] Die Bilder auf der Leinwand sind ihre eigenen belebten Schatten. Gefangen in ihrer Höhle der begrenzten Erkenntnis merken sie nicht, daß sie über sich selbst lachen. Um sich mit dem wahren Sein vertraut zu machen, müssen die Menschen aus der Welt der Abbilder und des Scheins befreit werden: Sie müssen ihre Höhle verlassen. Das Verlassen der Höhle und die Konfrontation mit der Wirklichkeit ist der Moment, in dem sich der Mensch der Absurdität seiner Existenz bewußt wird.

 

     Daniels, der die Welt bereits sinnentleert wähnt, sehnt sich in einer gottähnlichen Position danach, die Kinobesucher zu warnen:

 

His compassion fired his imagination and he stepped out of the box, walked out upon thin air, walked on down to the audience; and, hovering in the air just above them, he stretched out his hand  to touch them... (38)

 

Doch er kann ihnen nicht zur Erkenntnis verhelfen, denn sie sind "children, sleeping in their living, awake in their dying." (38) Das Oxymoron der lebenden Toten beschreibt die Kirchgänger und Kinobesucher, die Sartres Konzept des Selbstbetrugs verkörpern.[73]

 

4.3 Der Tod als äußerste Absurdität

 

Als Daniels auf ein totes Baby stößt, empfindet er ein Gefühl der Leere: "the same nothingness he had felt while watching the men and women singing in the church." (34) Er fühlt sich "as condemned as when the policemen had accused him." (34) Der Tod des Babys verdeutlicht die Kürze des Lebens, seine Nacktheit signalisiert die Schutzlosigkeit des Menschen. Der Ausdruck "a strangely familiar image" (34) weist auf die allgemeine menschliche Lage hin: Das Leben ist ein weites Meer, in das der Mensch nackt hineingeworfen wird und dort für einen Atemzug verharrt, bevor er ertrinkt. Als Daniels später durch ein Schlüsselloch in ein Bestattungsinstitut blickt, sieht er wieder einen nackten, leblosen Körper: "the nuden waxen figure of a man stretched out upon a white table." (36)

 

     Endlichkeit und Nacktheit sind aus existentialistischer Sicht die entscheidenden Merkmale des menschlichen Schicksals.[74] Die Philosophie der Existenz faßt diese Sichtweise in dem nihilistischen Ausspruch "Man is nothing in particular" (174) zusammen, den Richard Wright auch Cross Damon in The Outsider in den Mund legt. Der unvermeidbare Tod signalisiert die Abwesenheit eines Gottes und löst im Menschen Gefühle der Verdammnis, der Unvollkommenheit und der Schuld aus.

 

     Daniels anschließender Traum von der nackten, ertrinkenden Frau und ihrem Baby (42) übermittelt ihm eine Vision der Verbundenheit von menschlichem Leiden und seiner eigenen Aufgabe, etwas gegen dieses Leiden zu unternehmen. Der Traum deutet auf das Entstehen von Mitleid und Verantwortung hin. Das ertrinkende Baby verkörpert für Fred Daniels das Leid der Menschheit.[75] Wie Camus’ metaphysisch Revoltierender lehnt Daniels einen Gott ab, der Schmerz und Leid in der Welt zuläßt.[76]

 

      Daniels "rushed over the water looking for the baby calling where is it and the empty sky and sea threw back his voice." (42) Die Metapher "empty sky" verdeutlicht die Abwesenheit Gottes. Daniels wird bewußt, daß kein Gott die Menschen vor dem Tod retten wird. Auch im Juweliergeschäft schaut Daniels "with a baffled expression at the dark sky." (51) Sobald der existentialistische Held erkannt hat, daß kein Gott über ihn wacht, fühlt er sich einsam und auf sich allein gestellt: "He [Daniels] could not hear the rustling of the water now and he felt confoundingly alone, yet lured by the darkness and silence." (31)[77]

 

4.4 Ablehnung der traditionellen Werte

 

Daniels’ Gefühle der Isolation, Angst und Schuld sind die Folgen seiner Erkenntnis, daß es keinen Gott gibt. Als er die Abwesenheit Gottes akzeptiert, erkennt er die verantwortungsvolle Freiheit, sich selbst und seine Welt zu erschaffen. Er ist frei, sein eigener Gott zu sein.

 

     Daniels beginnt, die Werte der Welt über sich abzulehnen. Das Geld, das er im Lebensmittelgeschäft bekommt, bedeutet ihm nichts mehr: "He flung the dime to the pavement with a gesture of contempt." (49) Die 100-Dollarscheine aus dem Safe benutzt er als Wanddekoration. (14) Außerdem lehnt er Zeit ab. An die mit Geldscheinen tapezierte Wand hängt Daniels die gestohlenen Uhren, ohne sie zu stellen: "He stared with an idle smile, then began to wind them up; he did not attempt to set them at any given hour, for there was no time for him now." (62) Die Ablehnung dieser Werte sind ein befreiender Akt für Daniels.

 

     Daniels erschafft seine eigenen Werte und seine eigene Welt. Aus dieser neuen Freiheit heraus schlußfolgert er wie Dostojewskijs Iwan Karamasow:[78]

 

Maybe anything’s right, he mumbled. Yes, if the world as men had made it was right, then anything else was right, any act a man took to satisfy himself, murder, theft, torture. (64)

 

Diese Einstellung hilft ihm, seine Diebstähle zu rechtfertigen:

 

He did not feel that he was stealing, for the cleaver, the radio, the money, and the typewriter were all on the same level of value, all meant the same thing to him. They were the serious toys of the men who lived in the dead world of sunshine and rain he had left, the world that had condemned him, branded him guilty. (55)

 

Yes, he would take the gun and cartridge belt, not to use them, but just to keep them, as one takes a memento from a country fair. (58)

 

He had no desire whatever to count the money; it was what it stood for - the various currents of life swirling aboveground - that captivated him. (60)

 

He had not stolen the money; he had simply picked it up, just as a man would pick up firewood in a forest. (62)

 

     Begriffe wie Schuld und Unschuld haben für Fred Daniels keine Bedeutung mehr. Er beobachtet, wie ein Angestellter Geld aus einem Safe stiehlt und wie ein unschuldiger Wächter sich umbringt. Daniels hält den Wächter jedoch für schuldig und seinen Tod für gerechtfertigt. Seinen eigenen Diebstahl dagegen betrachtet Daniels nicht als kriminelles Delikt, da er das Geld nicht ausgeben will.

 

     Daniels ist von den weißen Polizisten ungerecht behandelt worden. Doch agieren die Polizisten ungestraft unter dem Deckmantel des Gesetzes. Wenn die Gesetzesvertreter willkürlich und straffrei handeln können, ist offensichtlich nichts falsch oder ungerecht. Daniels erkennt die nihilistische Botschaft: Alle Werte sind zerstört, nichts hat Bedeutung, alles ist erlaubt.[79] Trotz dieser Einsicht verfällt Fred Daniels jedoch nicht in amoralische Extreme wie Bigger Thomas und Cross Damon.

 

4.5 Entwicklung einer neuen Identität

 

Daniels lehnt den Materialismus der Welt über sich ab: Geld, Diamanten und Schmuck haben für ihn in den Kanalisationsanlagen keine Bedeutung. Er ist frei von der Herrschaft materieller Dinge, auch an seinen Namen erinnert er sich nicht mehr. (61) Er hat die ihm aufgezwungene Identität der anderen Welt hinter sich gelassen und ist frei, sich seine neue Identität selbst auszuwählen.[80] Daniels hat nichts mehr außer seiner Existenz, durch seine Handlungen kann er seine Essenz neu definieren. Er ist der Mensch Sartres, der sich und seine Welt selbst erschafft.

 

     Als Daniels sich in den Kanalisationsschacht begibt, kennt er seinen Namen noch. Er tippt ihn auf der Schreibmaschine, die er in einem Büro entdeckt. (56) Als er seinen Namen in der Höhle erneut tippen will, liegt dieser ihm auf der Zunge, doch er kommt nicht darauf. (61) Auf der Polizeistation schließlich ist es ihm unwichtig, daß er sich nicht mehr erinnern kann: "He had opened his lips to answer and no words came. He had forgotten. But what did it matter if he had? It was not important." (78)

 

     In einer Welt ohne Gott ist der Mensch nicht nur frei, sein eigener Gott zu sein, sondern sogar dazu verpflichtet. Nachdem Daniels seine alte Identität ablegt hat, erhält er eine Art göttliche Identität. Er glaubt, über Leben und Tod des schlafenden Wächters walten zu können: "He could send a bullet into that man’s brain and time would be over for him." (58) Als er beobachtet, wie die Polizisten den unschuldigen Wächter schlagen und zu einem Geständnis zwingen wollen, fühlt er "a great sense of power," (70) denn er realisiert seine gottähnliche Macht, über das Schicksal des Wächters zu bestimmen. In The Outsider wird Fred Daniels’ theoretische Möglichkeit zur grausamen Praxis Cross Damons.

 

     Im Kino möchte Daniels die Zuschauer warnen und stellt sich vor, wie er durch die Luft herunter in das Publikum schwebt. (38) In seinem anschließenden Traum kann er auf dem Wasser zu laufen. (42) Ebenso göttlich ist die Distanz von der Menschheit, die Daniels verspürt. Als er im Radio Kriegsnachrichten hört, hat er eine apokalyptische Vision: Er blickt aus dem Himmel auf die Menschen auf der Erde herab:[81]

 

He was high up in the air looking down at the twinkling lights of a sprawling city. [...] he looked down upon land and sea as men fought, as cities were razed, as planes scattered death upon open towns, as long lines of trenches wavered and broke. [...] men groaned as steel ripped into their bodies and they went down to die...(65)

 

     Daniels neue Identität unter der Erde entwickelt sich Schritt für Schritt. Zunächst bezeichnet ihn der Erzähler als "he", dann offenbart sich seine Hautfarbe durch den Kontrast zu einem weißen Gesicht: "Looming before him was a white face [...] ." (39) Seinen Namen verrät der Protagonist, als er "freddaniels" (55) auf der Schreibmaschine tippt. Bei seiner Rückkehr aus der Unterwelt erscheint schließlich sein Gesicht in einem Spiegel. (74)

 

     Daniels sucht keine personale Identität, sondern die Definition des Menschen als Mitglied der menschlichen Gemeinschaft. Er kann seine Identität nur durch andere erlangen, die einseitige Betrachtung aus seiner Höhle heraus ist nutzlos für ihn. "The Man Who Lived Underground" wirkt wie eine Umkehrung von Sartres Geschlossene Gesellschaft, doch Sartres Worte „die Hölle, das sind die andern“[82] haben für Daniels die umgekehrte Bedeutung: Verdammnis ist die Abwesenheit anderer.[83]

 

     Die existentialistische Annahme, daß der Mensch allein seine Existenz erschaffe und keine vorgegebene Identität besitze, wird auch in Daniels’ Rollenspielen deutlich: Er ist der Verkäufer im Lebensmittelladen, (48) der Geist, den das junge Mädchen sah, (50) der Dieb beim Juwelier. (57) In seiner Höhle ist er Schauspieler und Künstler, Zuhörer und Zuschauer, Dichter und Gott. (58-65)[84] Die menschliche Realität ist nach Sartre durch die Wahl, etwas zu sein, gekennzeichnet. Diese Seinswahl drückt sich in dem Leben aus, das jemand führt.[85]

 

     In Der Mythos von Sisyphos beschreibt Camus vier Typen des absurden Menschen: Don Juan, den Schauspieler, den Eroberer und den Künstler. Für Camus personifiziert der Schauspieler das Absurde, denn in ihm können sich die widersprüchlichsten Rollen vereinen. Fred Daniels verkörpert durch seine Rollenspiele den Schauspieler, erinnert aber noch stärker an den Eroberer, der das Ewige völlig von sich weist und im Sinne Zarathustras der Erde treu bleiben will. Camus’ Eroberer ist ein revoltierender Mensch, der sich gegen die Götter auflehnt und dessen Ziel der Mensch selbst und die menschliche Solidarität auf Erden ist.[86]

 

     Der kurze Satz "It was a long hot day," (61) den Daniels scheinbar wahllos tippt,  war der erste Satz der unveröffentlichten Originalversion der Kurzgeschichte. Diese Übereinstimmung spielt darauf an, daß eine erfundene Figur ihre eigene Geschichte schreibt und sich so ihre Existenz selbst erschafft.[87] Das Bedienen der Schreibmaschine symbolisiert das schöpferische Tun des Künstlers. Daniels repräsentiert den unverstandenen, sensiblen Künstler, der mit seiner Vorstellungskraft die Dinge belebt.[88]

 

4.6 Fred Daniels: Der glückliche Mensch in der Revolte

 

Der Mensch kann zwischen zwei Weltanschauungen wählen: Religion oder Revolte. Ein Mensch in der Revolte ist nach Camus ein Mensch, der nein sagt. Die Revolte keimt auf beim Anblick der Unvernunft, der Ungerechtigkeit und der Unverständlichkeit des Lebens. Wer revoltiert, macht im wörtlichen Sinne kehrt. Die Revolte beruht auf der kategorischen Zurückweisung eines als unerträglich empfundenen Eindringens sowie auf dem Eindruck des Revoltierenden, Recht zu haben, oder ein Recht auf etwas zu haben. Jede revoltierende Bewegung ruft einen Wert an.[89]

 

     Fred Daniels’ Gefühl der Revolte entsteht, weil er unter Zwang einen Mord gestehen mußte, den er nicht begangen hat. Seine Revolte appelliert an die Werte der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit. Er steigt aus den Kanalisationsanlagen auf und kehrt zu den Polizisten zurück, die ihn ungerecht beschuldigt haben. Er besteht darauf, die Polizisten unter die Erde zu führen, damit sie die gleichen Erfahrungen machen wie er.

 

     Unter der Erde manifestiert sich Daniels’ Revolte durch seinen absurden Gebrauch der Geldscheine und Uhren als Tapete und Wanddekoration. Geld und materielle Dinge haben keine Bedeutung mehr für ihn: "They were the serious toys of the men who lived in the dead world of sunshine and rain he had left, the world that had condemned him, branded him guilty." (55) Die Revolte ist der Beginn der Umwertung aller Werte; jede Revolte versucht, ein neues Universum zu erschaffen. Gleichzeitig mit der Revolte bricht die Erkenntnis durch, daß im Menschen etwas ist, womit der Mensch sich identifizieren kann.[90]

 

     Nachdem Daniels zum absurden Menschen geworden ist, für den es keine Regeln mehr gibt, und der sich mit einer grotesken Zimmerdekoration eine völlig absurde Umgebung geschaffen hat, überkommt ihn ein Gefühl der Freiheit und des Triumphes: "He had triumphed over the world aboveground! He was free! (62) [...] He felt that he had a glorious victory locked in his heart." (64)

 

     Auch auf seine spätere Erkenntnis der Schuldigkeit aller Menschen wird bereits angespielt: "The gold watches ticked and trembled, crowning time the king of consciousness, defining the limits of living." (66) Die tickenden Uhren drücken die Endlichkeit des menschlichen Lebens und den unvermeidbaren Tod aus. Wenn das Leben zwangsläufig mit dem Tod endet, wenn der Mensch unweigerlich mit dem Tod bestraft werden wird, so muß er schuldig sein. Fred Daniels entdeckt diese universelle Schuld, als der Wächter und ein Junge der Diebstähle bezichtigt werden, die Daniels begangen hat:

 

Perhaps it was a good thing that they were beating the boy; perhaps the beating would bring to the boy’s attention, for the first time in his life, the secret of his existence, the guilt that he could never get rid of. (69)

 

The watchman was guilty; although he was not guilty of the crime of which he had been accused, he was guilty, had always been guilty. (70)

 

Nach Camus will sich der Revoltierende völlig mit seiner neuen Erkenntnis identifizieren. Äußerstenfalls nimmt er dafür sogar den Tod hin.[91]

 

He [ Fred Daniels ] was eager to show them [the police] the cave now. If he could show them what he had seen, then they would feel what he had felt and they in turn would show it to others and those others would feel as they had felt, and soon everybody would be governed by the same impulse of pity. (89)

 

Camus drückt dieses Gefühl in Der Mensch in der Revolte so aus:

 

Für jegliche Existenz erhebt sich der Sklave, wenn er urteilt, daß durch einen bestimmten Befehl ihm etwas abgesprochen ist, in dem allen Menschen, auch seinen Unterdrückern und Beleidigern, eine Gemeinschaft bereitet ist.[92]

 

Auch Fred Daniels schließt die Polizisten nicht von dieser Gemeinschaft aus: "He wanted to make a hymn, prance about in physical ecstasy, throw his arm about the policemen in fellowship." (88)

 

     Die Solidarität der Menschen gründet in der Bewegung der Revolte. Um zu sein, muß der Mensch revoltieren. Die Revolte wandelt Descartes’ „Cogito, ergo sum“ in „Ich empöre mich, also sind wir“ um. In der Erfahrung des Absurden ist das Leid individuell. Erst in der Bewegung der Revolte wird bewußt, daß das Leid kollektiver Natur ist und daß die gesamte Menschheit an der Distanz zu sich und zur Welt leidet.[93] Daniels erkennt, daß alle Menschen allein sind, gefangen in einer sinnentleerten Welt, und daß sie zusammenhalten müssen, um dem Leben einen Sinn zu verleihen.

 

     Auch das Leiden Daniels’ ist zunächst individuell: Er hat einen Mord gestanden, den er niemals begangen hat. Das gleiche Unrecht beobachtet er von seinen geheimen Verstecken aus auch bei anderen Menschen. Er erkennt, daß er nicht der einzige Unschuldige ist, der für schuldig erklärt wird. In ihm wächst das Bewußtsein einer kollektiven Schuld heran.

 

     Daniels wird in den Kanalisationsanlagen mehrmals mit dem Tod konfrontiert: das tote Baby, das Bestattungsinstitut, seine Träume, schließlich der Selbstmord des Wächters. Mit dem allgegenwärtigen und unumgehbaren Tod wird Daniels der Höhepunkt der Absurdität des Lebens bewußt. Der Tod bleibt ein ewiges Rätsel, so sehr der Mensch auch fragt und so groß sein Wunsch nach Aufklärung auch ist. An dieser Distanz zwischen Wunsch und Realität, dem Absurden, leidet die gesamte Menschheit. Der Mensch revoltiert, da der Tod sein Schicksal ist. Die zentralen Begriffe Camus’ -  das Absurde und die Revolte - sind aus ihrem Bezug zum Tod zu erklären. Daniels sieht den unvermeidbaren Tod als angeborene Schuld, er verbindet Schuld mit dem Freudschen Geburtstrauma:

 

Why was this sense of guilt so seemingly innate, so easy to come by, to think, to feel, so verily physical? It seemed that when one felt this guilt one was retracing in one’s feelings a faint pattern designed long before; it seemed that one was always trying to remember a gigantic shock that had left a haunting impression upon one’s body which one could not forget or shake off, but which had been forgotten by the conscious mind, creating in one’s life a state of eternal anxiety. (68) 

 

     Mit dem Tod einher geht die Infragestellung eines Gottes. Der metaphysisch Revoltierende deckt in Gott den Vater des Todes und den größten Skandal auf.[94] Camus konnte sich nie mit dem Tod als Tatsache abfinden, daher weigert er sich, an Gott zu glauben: An Gott zu glauben, heißt den Tod zu akzeptieren.[95] In einer entheiligten Gesellschaft erhebt sich der metaphysisch Revoltierende, um eine Einheit gegen das Leid des Lebens und des Sterbens zu fordern.[96]

 

Ist der Thron Gottes einmal umgestürzt, erkennt der Aufrührer, daß es nun an ihm ist, jene Gerechtigkeit, jene Ordnung und Einheit, die er vergeblich auf  seiner Lebensstufe gesucht hat, mit eigenen Händen zu erschaffen und damit die Absetzung eines Gottes zu rechtfertigen.[97]

 

     Auch Daniels hat den Thron Gottes gestürzt: Er bemitleidet Kirchgänger und Kinobesucher, die Rettung von ertrinkenden Frauen und Kindern will er selbst übernehmen. Später träumt Daniels von seinem eigenen Tod:

 

His dreaming made him feel that he was standing in a room watching over his own nude body lying stiff and cold upon a white table. [...] Though lying dead upon the table, he was standing in some mysterious way at his side, warding off the people, guarding his body, and laughing to himself as he observed the situation. (66)

 

Dieser Traum deutet nicht nur Daniels’ baldigen Tod voraus, sondern weist auch darauf hin, daß er die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens akzeptiert hat.[98]

 

     Auch wenn der Revoltierende scheitert, ist die Revolte positiv, denn sie offenbart, was im Menschen zu verteidigen ist.[99] Entgegen der Meinung vieler Kritiker ist Fred Daniels kein tragischer, sondern ein optimistischer Protagonist. Sein Tod ist kein pessimistisches Ende, sondern der hohe Preis für den Wunsch nach Kameradschaft. Außerdem war Daniels erfolgreich, weil er die Einsamkeit und Endlichkeit der menschlichen Existenz erkannt und so absurde Freiheit erlangt hat.

 

     Camus’ Bild des absurden Menschen ist der von den Göttern zu ewiger, sinnloser Qual verdammte Sisyphos. Camus hält Sisyphos für das Ideal des absurden Menschen, weil er die Sinnlosigkeit seiner Arbeit erkannt hat. Auch Fred Daniels realisiert, daß die Polizisten ihm niemals glauben werden:

 

The distance between what he felt and what these men meant was vast. Something told him, as he stood there looking into their faces, that he would never be able to tell them, that they would never believe him even if he told them. (80)

 

     Sisyphos wird von Camus nicht als Verzweifelnder dargestellt. Vielmehr wird seine Leidenschaft für die sinnlose Sache deutlich: „Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache.“[100] Der absurde Mensch ist ein glücklicher Mensch: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.“[101] Sisyphosähnlich versucht auch Daniels leidenschaftlich, die Polizisten von seinen Wahrheiten zu überzeugen: "He grew frantic to make them believe, his voice tumbled on eagerly. [...] They did not believe him, but he had to make them believe him!" (83)

 

     Wie Sisyphos nimmt Daniels sein Schicksal an, ohne an der Erkenntnis, daß alle Menschen existentiell schuldig sind und sterben müssen, zu verzweifeln. Wir müssen uns Fred Daniels als glücklichen Menschen vorstellen. Sein Tod ist ein fruchtbares Opfer: Es soll den Menschen den Weg aus der Einsamkeit, zurück zur menschlichen Gemeinschaft weisen.

 

4.7 Existentielle Schuld

 

Fred Daniels erfährt sowohl gewöhnliche als auch existentielle Schuld. Da es für den existentialistischen Helden keine absoluten Werte gibt, fühlt er sich nicht schuldig, wenn er gegen soziale oder religiöse Normen verstößt. Die Schuld des absurden Menschen ist existentiell und resultiert aus der Erkenntnis von menschlicher Schwäche. Der Mensch ist machtlos, sich selbst ins Dasein zu bringen und zu garantieren, daß das Leben nach dem Tod nicht zu Ende ist. Existentielle Schuld impliziert nicht nur menschliche Mängel, sondern auch alle Diskrepanzen zwischen dem, was der Mensch ist, und dem, was er sein will. Der Mensch ist auf Grund seiner Vergänglichkeit schwach und daher schuldig.[102]

 

     Daniels Wahrnehmung der Welt wird durch das Oxymoron "dark sunshine" (65) wiedergegeben. Zu Beginn der Geschichte wird das Licht der oberen Welt im Gegensatz zur Dunkelheit der unteren Welt betont. (33;35;47) Als es Daniels gelingt, das Licht in seiner Höhle zu reparieren, erfährt er eine Erleuchtung: "The sudden illumination blinded him und he shut his lids to kill the pain in his eyeballs." (60) Diese Erleuchtung spielt auf seine kommende Erkenntnis der universellen Schuldigkeit an. An diesem Wendepunkt entschließt sich Daniels, den Untergrund zu verlassen. Die Welt über ihm betrachtet er jetzt als "place of dark sunshine," (65) weil sie die Wahrheiten verhüllt, die er in seiner Höhle erfahren hat.[103]

 

     Die Entfremdung erreicht ihren Höhepunkt, als Daniels seine Höhle mit Geldscheinen, Uhren und Juwelen dekoriert. Plötzlich erscheint die Höhle bedrohlich, wie eine Falle. Erstmalig fühlt Daniels sich erdrückt von den Wänden, die ihn zuvor noch beschützt haben: "It was these walls; these crazy walls were filling him with a wild urge to climb out into the dark sunshine aboveground." (65) Die Dekoration entfernt die Höhle noch mehr von der Realität. Anstatt seine neu errungene Freiheit zu bestätigen, zwingt sie Daniels dazu, seine emotionalen Bindungen zu der Welt über ihm zu erkennen. Diese Situation ist absurd, denn Daniels verfremdet seine ohnehin seltsame Umgebung noch mehr und wird selbst Opfer dieser Verfremdung.[104]

 

     Die Dekoration wirkt wie eine Umkehrung des Höhlengleichnisses in Platons Staat. Der Höhlenmensch bei Platon muß die Unterwelt verlassen und zu einer Welt der höheren Intelligenz aufsteigen, um wahres Wissen zu erlangen. Daniels dagegen macht die Wände seiner Höhle zu Botschaften der Wahrheit und betrachtet die Welt über sich als "wild forest filled with death." (62)[105] Ihm ist die Notwendigkeit der menschlichen Solidarität bewußt geworden, weniger von einem moralischen Standpunkt aus als von einem philosophisch- existentialistischen.[106] 

 

     Überzeugt, daß alle Menschen existentiell schuldig sind, verläßt Daniels seine Höhle, sucht die Polizeistation auf und gesteht: "I’m guilty." (80) Indem der Polizist Lawson - die ironisch-zeichenhafte Bedeutung seines Namens ist überdeutlich - sein Geständnis verbrennt, annulliert er Daniels’ neues Wissen der allgemeinen Schuldigkeit. Daraus resultiert Daniels’ Reaktion: "He was thunderstruck; the sun of the underground was fleeing and the terrible darkness of the day stood before him." (83) Lawson löscht das unterirdische Licht, das zur Erkenntnis verhilft, und holt den "dark sunshine" zurück, der es den Menschen nicht erlaubt, diese Wahrheit zu erkennen.[107]    

 

     Es gilt der Warnruf Nietzsches Zarathustras: „Und hüte dich vor den Guten und Gerechten! Sie kreuzigen gerne die, welche sich ihre eigne Tugend erfinden - sie hassen den Einsamen.“[108] „Die Guten müssen den kreuzigen, der sich seine eigne Tugend erfindet. Das ist die Wahrheit.“[109] Aus der Erkenntnis der Sinnlosigkeit des Seins und der Schuldhaftigkeit aller Menschen resultiert das Verlangen nach menschlicher Solidarität.[110] 

 

4.8 Persönliche Verantwortung und existentielle Angst

 

Nachdem Daniels sich in seiner Höhle von den Werten der Welt über ihm distanziert hat und so lange er sich weigert, seine persönliche Verantwortung gegenüber der Welt zu erkennen, fühlt er sich absolut frei. Aus diesem erhabenen Freiheitsgefühl heraus lacht er über den Jungen und den Wächter, die fälschlicherweise des Diebstahls beschuldigt werden. (69-70) Doch trotz seines Lachens überkommt Daniels ein Anflug von Mitleid. Er entwickelt sich zu einem Existentialisten im Sinne Sartres, der seine Handlungen sorgfältig auswählt und ihre Folgen für andere Menschen in Erwägung zieht.

 

     Daniels legt seine "anything is right"-Haltung ab und ersetzt sie durch ein Gefühl der Liebe und des Mitleids für die Menschheit. Auf diesen Werten basierend kann nach dem Vorbild seiner Untergrundwelt eine neue Weltordnung geschaffen werden. Die Höhle, in der Uhren, Geld, Ringe und Diamanten ihren Wert verloren haben und nur noch als Dekoration dienen, symbolisiert die neue Welt.[111]

 

     Der Selbstmord des Wächters vor seinen Augen, den er leicht hätte verhindern können, macht Daniels seine direkte Verantwortung bewußt. Er entscheidet sich, seine Höhle wieder zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen, in dem er sein  Wissen der universalen Verantwortung mit anderen teilt. Sein neues Verantwortungsgefühl bedeutet das Ende seiner amoralischen und egoistischen Freiheit, seine Selbstbestimmung hat an Bedeutung verloren. Doch der Verlust der absoluten Freiheit verursacht kein Bedauern in ihm, sondern Freude und Erleichterung. Seine Handlungen sind "informed with precision, his muscular system reinforced from a reservoir of energy." (72)

 

     Ähnlich wie Dostojewskijs Raskolnikow in Schuld und Sühne (1866) oder Iwan in Die Brüder Karamasow (1879-80) findet Fred Daniels in der Beziehung zu anderen Menschen und in seinem neuen Verantwortungsgefühl einen Sinn. Er befreit sich aus seiner Isolation und opfert sich nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus der Freude, für andere zu handeln.[112]

 

     Daniels’ Dekoration der Höhle ist jedoch ein unvollkommener Triumph: Niemand ist Zeuge seines Werks, sein Wunsch nach Anerkennung bleibt unerfüllt. Somit ist seine Existenz in der Unterwelt bezugslos und sinnentleert. Der Untergrund, der zunächst Rettung und Sicherheit versprach, erweist sich als unmenschlich. Die totale Isolation bedeutet, einen aussichtlosen Kampf gegen einen unsichtbaren Gegener zu führen. Daniels spürt, daß sich der Mensch nur innerhalb der menschlichen Gemeinschaft entfalten kann. Das Leben im Untergrund dagegen bedeutet zunehmende Entfremdung, das Alleinsein wird zur Hölle. Daniels ist gespalten: "His mind said no, his body said yes, and his mind could not understand his feelings." (73) Dieser Konflikt läßt sich nur durch die Rückkehr an die Oberwelt lösen.[113]     

 

     Als Daniels die Polizeistation aufsucht, geht es ihm nicht mehr darum, seine tatsächliche Unschuld zu bezeugen, sondern die grundlegende Schuld aller Menschen und die Verantwortung aller Menschen füreinander verkünden: "‘But they said I killed her. But it doesn’t make any difference. I’m guilty [...] All the people I saw was guilty.’" (80)

 

     Richard Wright zeigt die vollständige Umwandlung Daniels’ zum menschlichen Ideal Camus’. Daniels charakterisieren jetzt Selbstlosigkeit, Kameradschaft und Mitleid. Er ist glücklich, weil er gelernt hat, die Menschen zu lieben, indem er ihr Leiden beobachtet hat. Er wünscht sich leidenschaftlich, daß seine Untergrunderfahrung auch auf andere Menschen übertragbar ist, daß "soon everybody would be governed by the same impulse of pity." (89)[114]

 

     Auch in einer Welt ohne Gott, in der alles erlaubt ist,  muß der Mensch seinen Mitmenschen gegenüber verantwortungsvoll agieren. Daher führt die Freiheit nach Sartre auch zu Angst vor der eigenen Willensfreiheit und vor der Verantwortung.[115] Auch Daniels verspürt Angst, als er erkennt, daß er allein für seine Handlungen verantwortlich ist. In den drei Tagen unter der Erde erlebt er Angst am stärksten, als er sich auf seinen Aufstieg vorbereitet:

 

He did not know how much fear he felt, for fear claimed him completely; yet it was not a fear of the police or of people, but a cold dread at the thought of the actions he knew he would perform if he went out into that cruel sunshine. (73)

 

     Daniels Angst ist existentiell, es ist die Angst vor der Notwendigkeit, zu handeln.[116] Fear, dread und anxiety sind Kennzeichen des Existentialismus und Schlüsselwörter bei Kierkegaard, Tillich, Heidegger und Sartre. Sie betonen jedoch den Unterschied zwischen fear und Angst. Fear hat ein konkretes Objekt, das konfrontiert werden kann. Angst hingegen hat kein Objekt, sondern ist die Reaktion des Menschen angesichts seiner absoluten Handlungsfreiheit und der Möglichkeit, seine Existenz frei zu erschaffen. Wenn Richard Wright "fear" (73) gebraucht, meint er das Gefühl, das von Kierkegaard und Tillich als dread oder anxiety bezeichnet worden wäre: die Angst vor der freien Wahl.[117] Cross Damon, der Protagonist von The Outsider, formuliert seine namenlose Angst im existentialistischen Sinn: "Afraid of what? Nothing exactly, precisely... And this constituted his sense of dread." (23)

 

4.9 Fred Daniels: Christusfigur und Prophet

 

Daniels bleibt drei Tage und drei Nächte unter der Erde, erleidet einen symbolischen Tod - er verliert seine Identität, als er seinen Namen vergißt - und steht von den metaphorisch Toten wieder auf. Trotz seiner Auferstehung stirbt Daniels schließlich doch, denn er ist ein existentialistischer Held, für den es kein Leben nach dem Tod gibt. Daniels ist sich dieser Annahme schon bewußt, als er die schwarze Gemeinde beobachtet: "begging for something they could never get." (33) Seine Auferstehung wirkt wie eine Parodie der Auferstehung Christi.

 

     Als Daniels erneut die in seinen Augen sinnlos betende Gemeinde beobachtet und sieht, wie ein unschuldiger Junge geschlagen wird, überkommt ihn ein Gefühl des Mitleids für die gesamte Menschheit. Wie ein Prophet brennt er darauf, seine neu entdeckten Wahrheiten allen Menschen mitzuteilen. Er muß auferstehen, um die Menschen zu retten und aus ihrer Ignoranz zu reißen. Doch als Daniels nach drei Tagen die Kanalisation verläßt, um seine Vision einer sinnentleerten Welt zu verkünden, wird er verspottet. Er wird aus der Kirche geworfen und von den Polizisten für verrückt erklärt.

 

     Daniels erinnert an die Propheten aus dem Alten Testament. Wie die Propheten vor ihm wird er abgelehnt und verachtet. Er hofft, in den Polizisten Mitleid für die Lebensbedingungen der Menschen zu wecken, indem er von seinen Beobachtungen erzählt. Doch die Polizisten zerstören sein Geständnis: Die Gesellschaft lehnt sein prophetisches Wissen ab, das zur Heilung gesellschaftlicher Mißstände beitragen könnte. Daniels kann seine Vision nicht verständlich machen und wird schließlich erschossen.[118] Fred Daniels, der Mann ohne Namen, existiert für sie nicht - er ist der Vorläufer für Ralph Ellisons Invisible Man (1952).

 

     Indem er den Polizisten erzählt, daß er das Schicksal des Nachtwächters beobachtet hat, unterschreibt Daniels sein eigenes Todesurteil: Die Polizisten brauchen keinen Mitwisser. Auch der Polizist Lawson verteidigt keine traditionellen Gesetzte, er lebt seine eigenen. Als "son of the law" gehört er einer neuen Generation an, die ihre eigenen Gesetze und Werte aufstellt. Der Name von Lawsons Kollege Murphy weckt Assoziationen an Murphys Law: Was schief gehen kann, geht schief. Diese Weisheit soll sich für Daniels bewahrheiten.  

 

     Auch die schwarze Gemeinde erkennt Daniels nach seiner Auferstehung nicht als Retter. Paradoxerweise werfen die Menschen, die beten, daß der Heiland komme, den Menschen heraus, der tatsächlich gekommen ist, um ihnen eine Wahrheit zu verkünden und zu helfen. "Fill my weary soul with love" (20) betet die Gemeinde um genau das, was Daniels verbreiten möchte. Bewußt wird ihm das jedoch erst auf der Polizeistation: "‘Mister, when I looked through all those holes and saw how people were living, I loved ‘em....’"(86) Abgelehnt von seinen eigenen Leuten, erschossen von den Repräsentanten der herrschenden Klasse, wird Daniels hingerichtet.[119] Die Interpretation Daniels als Christusfigur wird noch deutlicher: Auch Jesus mußte sterben, weil er die herrschenden Institutionen nicht anerkannte.

 

     Daniels stirbt als "whirling object rushing alone in the darkness, veering, tossing, lost in the heart of the earth." (92) Diese letzte Zeile liest sich wie eine Anspielung auf Joseph Conrads Heart of Darkness (1902). Auch Fred Daniels bizarre Entdeckungsreise durch die Kanalisation gleicht Marlows Trip auf dem Fluß im Kongo.[120]   

 

4.10 Naturalistische und existentialistische Positionen

 

Viele Kritiker haben sich auf den existentialistischen Gehalt von "The Man Who Lived Underground" konzentriert. Kaum jemand hat ihren naturalistischen Merkmalen Beachtung geschenkt, obwohl der Naturalismus ebenso wie der Existentialismus das menschliche Wesen und seine Existenz kommentiert. Der Naturalismus ist jedoch die Philosophie des Determinismus, während der Existentialismus anti-deterministisch ist. Zunächst besitzt "The Man Who Lived Underground" alle typischen Merkmale einer naturalistischen Geschichte: Fred Daniels wird wie ein Tier dargestellt, dessen Schicksal von Mächten bestimmt wird, die er nicht kontrollieren kann.

 

     Der Arbeiter Daniels wird fälschlich des Mordes beschuldigt und erleidet das klassische Schicksal des naturalistischen Helden: er wird ausgelöscht, erschossen. Die Darstellung Daniels’ erinnert an die naturalistische Methode Émile Zolas in Germinal, Térèse Raquin, La Fortune des Rougon und Le Roman Experimental.    Paradoxerweise wird Daniels sowohl mit Christus als auch mit verschiedenen Tieren verglichen:[121]

 

[...] his finger toyed in space, like the antennae of an insect. (35)

 

[...] he had learned a way of seeing in the dark world, like those sightless worms that inch along underground by a sense of touch. (40)

 

Then, like a dog, he grounded the meat bones with his teeth, enjoying the salty, tangy marrow. (41-42)

 

Eel-like he squeezed through the last hole and crept up the steps and put his hand on the knob and pushed the door in about three inches. (53)

 

Like a frantic cat clutching a rag, he clung to the steel prongs and heaved his shoulder against the cover and pushed it off halfway. (73)

 

     Indem Wright seinen Protagonisten unter die Erde plaziert, vergleicht er ihn indirekt ebenfalls mit einem Tier. Der Tod einer Ratte zu Beginn der Geschichte wird mit ähnlichen Worten wiedergegeben wie Daniels’ eigener Tod am Ende: Beide verschwinden sich schnell drehend in der Strömung. (30; 92)

 

     Seine Umwelt, insbesondere wirtschaftliche und soziale Kräfte, scheint Daniels’ Schicksal zu bestimmen, ebenso wie die Helden Zolas durch ihr Milieu für ein bestimmtes Schicksal determiniert waren. Als einfacher Hausangestellter befindet sich Daniels am Ende der sozialen Leiter, was ihn zu einem leichten Opfer der Polizisten macht.

 

     Unter Berücksichtigung dieser Aspekte läßt sich behaupten, "The Man Who Lived Underground" sei die Geschichte einer naturalistischen Niederlage: Sie zeigt den Menschen leben und sterben wie ein Tier, inneren und äußeren Kräften ohnmächtig ausgeliefert.[122]

 

     Doch die lange Kurzgeschichte kann auch als eine Geschichte des existentialistischen Triumphes gelesen werden - ähnlich wie der Roman Native Son. Paradoxerweise präsentiert sie sowohl eine deterministische als auch eine anti-deterministische Position. Letztere ist jedoch die überzeugendere. Daniels' existentialistischer Triumph besteht in seiner Befreiung von den Werten der oberen Welt, er wird sein eigener Gott und erkennt die Freiheit, sich und seine Welt selbst zu erschaffen.

 

     Die Struktur der Kurzgeschichte vermittelt den Eindruck, der Mensch sei ein Paradoxon mit einer absurden, sinnlosen Existenz. In der von Wright dargestellten Welt sind unschuldige Menschen schuldig, Menschen lehnen den Retter ab, um den sie eigentlich beten, tote Menschen leben über der Erde, während unter der Erde ein toter Mensch zu neuem Leben erwacht. In dieser absurden Welt ist der Mensch sowohl Tier als auch Gott. Diese widersprüchlichen Positionen tragen zu dem existentialistischen Charakter der Geschichte bei.[123]         

 

     Michel Fabre schreibt: "The short story stands at a kind of philosophic crossroads in the evolution of Wright's thinking, midway between Native Son and The Outsider."[124]

5. Von "The Man Who Lived Underground" zu The Outsider

 

Nach der Veröffentlichung seines zweiten Bestsellers Black Boy (1945) hatte Richard Wright sich endgültig literarisch und finanziell etabliert. Als erfolgreicher Schriftsteller mit offenen Augen für seine Umwelt wollte er jetzt verreisen und die Welt sehen. Die Schlüsselwörter der Französischen Revolution gingen ihm nicht aus dem Kopf: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

 

     Paris bedeutete zu dem Zeitpunkt das Paradies für Wright. Die Stadt verkörperte kulturelle und politische Freiheit und bot Wright die Möglichkeit, sich selbst zu definieren: als internationaler Mensch, als weltlicher Mensch, als moderner Mensch des 20. Jahrhunderts. Im Mai 1946 fuhren Wright, seine Frau und seine Tochter das erste Mal nach Paris. Schon in Amerika hatte Wright französische Künstler und Schriftsteller kennengelernt, darunter Jean-Paul Sartre und Louis Aragon. Außerdem las er Émile Zola, André Malraux, André Gide.

 

     Im Januar 1947 kehrten Wright und seine Familie nach New York zurück. Doch nach kurzer Zeit fiel Wright der institutionalisierte Rassismus der Vereinigten Staaten verstärkt auf. Da er jetzt einen Ort größerer Freiheit kennengelernt hatte, schien es ihm nicht länger möglich, in Amerika Zielscheibe von Vorurteilen zu sein. Hinzu kam die Konfrontation mit früheren Parteifreunden und dem wachsenden Antikommunismus der McCarthy-Ära. Wright entschloß sich, Amerika endgültig zu verlassen.[125]

 

     Viele Kritiker glaubten, daß Wrights literarische Karriere mit seiner Abreise aus Amerika beendet war.[126] Saunders Redding übersah die existentialistische Situation der Schwarzamerikaner in der modernen Gesellschaft:

 

I think going to France, for Dick, was a mistake. I think it began that processs of unraveling that showed up very early in The Outsider. He had been seduced by existentialism, and I am not sure he understood this. I think that his unraveling, this abandonment of the place where he lived, showed itself also when he began reaching out for other experiences [...] Existentialism is no philosophy that can be made to accomodate the reality of Negro life, and especially- as Dick Wright comprended it- of Southern Negro life, which was Dick's major theme.[127]

 

     Das Exil war jedoch keine neue Erfahrung für Wright: Er hatte sich oft als Fremder gefühlt, seine Suche nach Freiheit hatte ihn bereits von Memphis über Chicago nach New York geführt.[128] Außerdem bewies ein anderer schwarzamerikanischer Autor die Unabhängigkeit von Exil und Existentialismus: Ralph Ellisons Invisible Man entstand aus einer rein amerikanischen Tradition. Wright hatte die existentialistische Erfahrung der Schwarzamerikaner eher erkannt als seine Kritiker - was sie ihm scheinbar nicht verzeihen konnten. William Gardner Smith zitiert Wright:

 

The break from the U.S. was more than a geographical change. It was a break with my former attitudes as a Negro and a Communist - an attempt to think over and re-define my attitudes and my thinking. I was trying to grapple with the big problem - the problem and meaning of Western civilization as a whole and the relation of Negroes and other minority groups to it. Out of this searching grew the idea of The Outsider.[129]

 

Viele Kritiker übersahen das typisch Amerikanische seiner Migration:

 

[...] the urge to be forever wandering forward into new territories. [...] This American preoccupation - the desertion of the old for the hope of the new - has been a deep and powerful force in American life since the landing of the Pilgrims at Plymouth Rock, in their own escape from social and religious persecution.[130]  

 

The move away from earlier places was entirely pragmatic, bound up with the deep-grained American tradition of going out after something, looking it over [...] and trying it out: Thoreau went to the woods; Whitman took to the open road; and Melville went to sea.[131]

 

     Die modernen Großstädte, in die Wright ging, boten psychologischen Raum zur Selbstentdeckung und -entwicklung. Sie stellen das moderne Äqivalent des Amerikanischen Westens dar. Der Westen galt als "an indeterminate open space creating the independence, freedom, and mobility necessary for achieving genuine selfhood."[132] An dieser Beschreibung wird deutlich: Der amerikanische Existentialismus hat seinen Ursprung im Mythos des Westens. 1893 behauptete Frederick Jackson Turner in "The Significance of the Frontier in American History," daß das amerikanische Denken auf die Frontier-Situation zurückzuführen sei.[133] Für Richard Wright bedeutete Paris die neue frontier.

 

     In Paris fand Wright schnell Anschluß an intellektuelle Kreise und pflegte Bekanntschaften aus den USA, wie die Jean-Paul Sartres und Simone de Beauvoirs. Sartre, Herausgeber der linksorientierten Zeitschrift Les Temps Modernes, publizierte verschiedene Erzählungen und Artikel Wrights. Von der Philosophie des Existentialismus hatte Wright jedoch schon in Amerika durch Dorothy Norman, Herausgeberin von Twice A Year, erfahren. Wright erkannte, daß ihn die Lektüre Dostojewskijs bereits mit dieser Philosophie bekannt gemacht hatte. Dorothy Norman empfahl ihm auch, Nietzsche, Heidegger und Kierkegaard zu lesen. 1940 hatten Wright und Ralph Ellison schon über Miguel de Unamunos Tragic Sense of Life diskutiert, 1944 lud Dorothy Norman Paul Tillich und Hannah Arendt ein. Bereits 1946 begann Wright mit The Outsider.

 

     Zwischen 1947 und 1953 veröffentlichte Wright ausgesprochen wenig, doch lebte er ein intensives geistiges Leben, das ihn nach und nach von typisch amerikanischen Angelegenheiten entfernte. Diese Jahre waren eine Form der Neuorientierung: Wright befaßte sich mit europäischen und globalen Betrachtungsweisen seiner persönlichen Situation. Er brauchte Zeit, um den Bruch mit der Amerikanischen Kommunistischen Partei zu verarbeiten. Auf der Suche nach neuen Idealen erschien ihm der moderne Existentialismus als die perfekte Philosophie, um die Situation der Schwarzamerikaner auszudrücken. Außerdem verfilmte er Native Son und unterstützte die Arbeit der Présence Africaine-Gruppe. All diese Projekte verfolgte Wright gleichzeitig.

 

    Michel Fabre glaubt, daß Wright sich in Paris nicht grundlegend verändert habe. Trotzdem wurden seine in Frankreich geschriebenen Romane, von denen The Outsider noch als der erfolgreichste gilt, oft als künstlerisches Versagen kritisiert.[134] Ob dieser Vorwurf berechtigt ist, soll die folgende Analyse zeigen. Die unterschiedlichsten Kritikermeinungen bweisen auf jeden Fall: Es war einfach, The Outsider abzulehnen - aber unmöglich, den Roman zu ignorieren.

Ende der Leseprobe aus 105 Seiten

Details

Titel
Existentialistische Positionen in Richard Wrights "The Man Who Lived Underground" und "The Outsider"
Hochschule
Universität Paderborn
Note
1
Autor
Jahr
1999
Seiten
105
Katalognummer
V185388
ISBN (eBook)
9783656980322
ISBN (Buch)
9783869430157
Dateigröße
1093 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
existentialistische, positionen, richard, wrights, lived, underground, outsider
Arbeit zitieren
Nadine Emmerich (Autor:in), 1999, Existentialistische Positionen in Richard Wrights "The Man Who Lived Underground" und "The Outsider", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/185388

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