Kanu-Wildwasserfahren als Kursangebot im Rahmen der gymnasialen Sekundarstufe II


Examensarbeit, 2005

121 Seiten, Note: 1


Leseprobe


I
Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an
Gymnasien
Kanu - Wildwasserfahren als Kursangebot im Rahmen
der gymnasialen Sekundarstufe II
Vorgelegt von Tobias Keller
Prüfer: Dr. Axel Bauer
Göttingen, den 02.06.2005

II
Inhaltsverzeichnis
I. EINLEITUNG ...1
II. PÄDAGOGISCHE INTENTION ...3
1. Der Bildungsauftrag der Schule...3
2. Legitimation des Schulsports ...5
2.1 Fachdidaktische Konzepte...9
2.1.1 Das Sportartenprogramm ...10
2.1.2 Die Körpererfahrung ...10
2.1.3 Die Endpädagogisierung ...11
2.1.4 Die Handlungsfähigkeit...12
2.1.5 Das integrativ-unterrichtstheoretische Konzept ...14
2.2 Aufgaben und Ziele des Schulsports...15
3. Erlebnispädagogik...18
3.1 Definition...18
3.2 Zielsetzung der Erlebnispädagogik ...20
3.3 Inhaltliche Merkmale und geschichtliche Entwicklung ...23
3.3.1 Inhaltliche Abgrenzung ...23
3.3.1.1 Die Natur als Lernfeld...26
3.3.1.2 Der pädagogische Nutzwert der Natur ...26
3.3.1.3 Die Instrumentalisierung der Natur...28
3.3.2 Geschichtliche Entwicklung...31
3.3.2.1 Die ,,Wegbereiter" der EP ...31
3.3.2.2 Die Reformpädagogik ...31
3.3.2.3 Kurt Hahns Erlebnistherapie ...32
3.4 Reflexion und Transfer in der EP...33
3.4.1 Die Reflexion ...33
3.4.2 Der Transfer ...37
3.5 Kritik an der EP...38
3.6 Zusammenfassung ...39
III. DIDAKTISCH-METHODISCHE KONZEPTIONEN ZUR EINFÜHRUNG IN
DAS WILDWASSERFAHREN ... 41
1. Wildwasserfahren...42
1.1 Grundsätzliches über das Wildwasserfahren...42
1.1.1 Definition und Hydrologie des Wildwassers...42
1.1.2 Die Grundtechniken des Wildwasserfahrens ...46
1.2 Besonderheiten des Kanufahrens im Wildwasser ...47
2. Wildwasserfahren als Schulsport...51
2.1 Schulische Strukturen und Rahmenbedingungen...51

III
2.2 Zum Umgang mit der Angst...54
2.2.1 Begriffserklärung...54
2.2.2 Die spezielle Angst im Wildwasser...55
2.2.3 Angstreduzierende Methoden im Wildwasserunterricht...57
2.3 Sicherheit im Wildwasser...59
2.3.1 Die Rolle der Lehrkraft ...60
2.3.2 Das Material ...62
2.3.3 Die sicherheitsspezifische Methodik...64
2.4 Didaktisch-methodische Grundüberlegungen ...66
2.4.1 Methodische Ansätze ...68
2.4.1.1 Die Induktive gegenüber der Deduktiven Lehrmethode ...68
2.4.1.2 Die Analytische gegenüber der Ganzheitlichen Lehrmethode...69
2.4.1.3 Die Handlungsorientierte Lehrmethode gegenüber der Orientierung an
Technikleitbilder ...70
3. Zur Einführung des Wildwasserfahrens ­ Ein Vergleich zweier Konzeptionen.72
3.1 Die traditionelle Methode...72
3.2 Der direkte Einstieg ins Wildwasser ...73
3.2.1 Organisationsformen ...76
3.2.1.1 Aufgabentypen ...76
3.2.1.2 Gruppenarbeit...77
3.2.1.3 Selbstorganisation und Selbstverantwortung ...77
3.3 Zusammenfassung ...79
IV. PRAKTISCHE UMSETZUNG ...80
1. Ziele des Wildwasserfahrens in der Schule...80
1.1 Kognitive Lernziele:...80
1.2 Motorische Lernziele...82
1.3 Sozial-affektive Lernziele ...83
2. Organisatorische Rahmenbedingungen ...85
1.1 Die Lerngruppe...85
1.2 Die Vorbereitung...86
1.3 Der Lernort ...87
1.4 Das Material ...88
3. Der Projektverlauf ...89
3.1 Wochenplan...92
3.2 Verlaufsplan zur Übungseinheit am 2. Tag...100
3.3 Methodisch-didaktische Erläuterungen zum Stundenentwurf ...103
V. FAZIT ... 106
VI. LITERATURVERZEICHNIS ... 109

Einleitung
1
I. Einleitung
In vielen Bundesländern werden derzeit Änderungen in der Bildungspolitik in Form von
Schulreformen vorgenommen. Auch in Niedersachsen erfolgt eine schulstrukturelle
Weichenstellung um bildungspolitischen Ansprüchen gerecht zu werden.
1
Im Schulalltag sehen sich Schülerinnen und Schüler
2
jedoch nach wie vor mit
dem Prinzip des Fachunterrichts in einem eng gestecktem zeitlichen Rahmen
konfrontiert, der den Lernerfolg einzelner Inhalte erschwert.
Dagegen birgt der Projektunterricht gewisse Möglichkeiten, aus der starren
Struktur auszubrechen und durch Lernen in einem geeigneten Umfeld den
Bildungsauftrag zu erfüllen. Die Schüler sollen durch mitgestalteten Unterricht in
Gruppen bestimmte Schlüsselqualifikationen
3
erwerben, die Voraussetzung für
individuelle Entfaltung, gesellschaftliche Entwicklung und verantwortungsvolles
Handeln sind (vgl. FREY 1982, 49f.).
Von diesem Aspekt ausgehend präsentiere ich mit dem Wildwasserfahren eine
erlebnispädagogische Sportart, die auf Grund der unmittelbaren Erfahrungen in der
Natur nicht nur den Folgen der zunehmenden Technisierung entgegenwirken kann,
sondern darüber hinaus ein erhebliches pädagogisches Potential birgt.
In dieser Arbeit wird der Frage eine zentrale Bedeutung beigemessen auf welche
Art und Weise der Unterricht didaktisch-methodisch aufbereitet werden sollte um
entsprechende Zielsetzungen zu erreichen.
Der Aufbau der Arbeit ist in drei Teile gegliedert:
Das erste Kapitel beleuchtet die pädagogische Intention der Institution Schule, indem
zunächst der schulische Bildungsauftrag dargestellt wird (II.1) und anschließend gezeigt
1
Das am 25. Juni 2003 vom Landtag verabschiedete ,,Gesetz zur Verbesserung von Bildungsqualität und
zur Sicherung von Schulstandorten" beinhaltet u.a. eine Abschaffung der Orientierungsstufe sowie die
Schulzeitverkürzung durch das Abitur nach 12 Jahren. Informationen dazu auf:
http://www.mk.niedersachsen.de/master/C1827714_N1804786_L20_D0_I579.html
2
Wenn im Folgenden aus Gründen der besseren Lesbarkeit einheitlich die männliche Anrede gewählt
wird, sind selbstverständlich beide Geschlechter gemeint. Gleiches gilt für ähnliche Wendungen wie
Lehrerinnen und Lehrer etc.

Einleitung
2
wird, inwiefern der Sportunterricht mit seinen Aufgaben und Zielen diesem Auftrag
gerecht werden kann (II.2). In diesem aus Ansprüchen, Aufgaben und Zielen
bestehendem strukturellen Rahmen widme ich mich schließlich im Hauptteil dieses
ersten Kapitels der Methode der Erlebnispädagogik (II.3). Ich möchte mit der
Darstellung der charakteristischen Merkmale und Zielsetzungen auf die erzieherische
Wirksamkeit hinweisen ohne dabei jedoch Probleme und Schwierigkeiten dieses
Prinzips zu unterschlagen.
Als eine von vielen erlebnisorientierten Sportarten stelle ich im zweiten Kapitel
das Wildwasserfahren vor, das sich auf Grund einiger Besonderheiten von der Masse
abhebt (II.1). Wie diese Sportart in der Schule umgesetzt werden kann, soll der
Hauptaspekt dieses zweiten Kapitels sein. Es ist in diesem Zusammenhang notwendig
didaktisch-methodische Grundüberlegungen zu diskutieren (II.2.5), die als Basis für die
Konzeption einer Einführung in das Wildwasserfahren gelten können (II.3).
Schließlich präsentiere ich im dritten Kapitel eine exemplarische
Unterrichtseinheit, die sich an einem Konzept der Anfängerschulung orientiert, das
wesentlich von der Entwicklung der Handlungsfähigkeit auf dem fließenden Wasser
bestimmt ist. Dieser Unterrichtsentwurf fügt sich in einen in Kapitel II. verdeutlichten
curricularen Rahmen ein und basiert auf den in Kapitel II. diskutierten didaktisch-
methodischen Überlegungen. Ich möchte untersuchen, ob und wie das Konzept in einem
schulischen Projekt verwirklicht werden kann. Natürlich sind dabei die fiktiven
organisatorischen Rahmenbedingungen (IV.1) entsprechend zu adaptieren. Es wird
darauf zu achten sein, zu klären, in wie fern einem solchen Modell mehr als ein
beispielhafter Charakter zugesprochen werden kann.
Das Fazit bilanziert darüber hinaus die Ergebnisse dieser Arbeit und überprüft
das Konzept hinsichtlich seiner Anwendbarkeit und der Finanzierungs- und
Transferproblematik.
3
Laut STRUCK zählen zu den in der Arbeitswelt geforderten Schlüsselqualifikationen Erkundungs- und
Handlungskompetenz, Teamfähigkeit, Kreativität, Konfliktfähigkeit, vernetztes Denken und soziales
Lernen (vgl. STRUCK 1996, 19).

1. Der Bildungsauftrag der Schule
3
II. Pädagogische Intention
1. Der Bildungsauftrag der Schule
Das Bildungssystem in Deutschland erfreut sich z. Zt. größter Aufmerksamkeit in der
Gesellschaft. Dies ist nicht zuletzt auf die Ergebnisse der jüngsten PISA-Studie von
2003 zurückzuführen, die den deutschen Schülern abermals lediglich einen
mittelmäßigen Platz im internationalen Vergleich bescherte.
4
Nach den Ergebnissen von
2000, als deutsche Schüler hinsichtlich ihrer Lesekompetenz durchschnittlich
abschnitten, blieben sie nun auch im Bereich Mathematik hinter den Erwartungen
zurück.
5
Dadurch sah sich die Landesregierung genötigt zu reagieren, und so
veröffentlichte das Niedersächsische Kultusministerium (im Folgenden NK) 2003 in
Zusammenarbeit mit dem Niedersächsischen Landesinstitut für Schulentwicklung und
Bildung (NLI) einen Orientierungsrahmen für die Schulqualität in Niedersachsen. Diese
Initiative benennt Kriterien, an Hand derer die ,,Sicherung und Verbesserung der
Qualität von Schule und Unterricht" gewährleistet werden soll (NK 2003, 3).
6
Es ist nicht nur die Bildungspolitik eines Landes, die für die Schulqualität
verantwortlich ist. Auch Schulleiter und v.a. Lehrer tragen ihren Teil zur
Qualitätsentwicklung bei. Demnach muss ,,geklärt werden, welche didaktischen,
erzieherischen oder organisatorischen Maßnahmen einzuleiten sind, um allen Schülern
eine möglichst umfassende Bildung und einen optimalen Schulabschluss zu
4
PISA (,,Programme for International Student Assessment") untersucht die Kompetenzen der OECD-
Staaten (,,Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung") in den Bereichen
Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften. Die Erhebungen werden im Zuge eines Testprogramms
innerhalb eines Abstandes von 3 Jahren durchgeführt. Vgl. dazu http://www.pisa.ipn.uni-kiel.de.
5
Zusätzlich wurden fächerübergreifende Kompetenzen erhoben: 2003 war eine dieser Kompetenzen die
Fähigkeit Probleme zu lösen. Weitere Erhebungen betrafen Lernstrategien, Lernmotivation und die
Vertrautheit der Schüler mit verschiedenen Informationstechnologien.
6
Das Dokument liegt in digitaler Version als PDF-Datei vor. Seitenangaben nach Zitaten beziehen sich
auf die elektronische Version.

1. Der Bildungsauftrag der Schule
4
ermöglichen" (ebd.). Hierfür soll nun diese Veröffentlichung des NK einen Rahmen
bieten, an dem es sich zu orientieren gilt.
7
In diesen Richtlinien wird entsprechend evaluiert, welche Merkmale eine
Schule, der Unterricht, die Lehrkraft sowie die Schüler aufweisen sollten, damit die
Schulqualität verbessert werden kann. Damit ist der strukturelle Rahmen umrissen; es
bleibt aufzuzeigen, welche inhaltlichen Aspekte diesen Auftrag füllen sollen. Auch hier
reagierte die Landesregierung und veröffentlichte eine Änderung der Verfassung des
Niedersächsischen Schulgesetzes (NSchG).
8
Unter § 2 des Haushaltbegleitgesetzes wird
der Bildungsauftrag definiert. Demnach muss die Schule zunächst ,,Lehrkräften sowie
Schülerinnen und Schülern den Erfahrungsraum und die Gestaltungsfreiheit bieten, die
zur Erfüllung des Bildungsauftrags erforderlich sind" (NK 2004, 4).
9
Dieser beinhaltet
vornehmlich die Entwicklung der Persönlichkeit der Schüler und die Vermittlung von
Wertvorstellungen. Im speziellen sollen laut dieser Quelle die Schüler befähigt werden,
-
die Grundrechte [...] wirksam werden zu lassen, die [...] staatsbürgerliche Verantwortung zu
verstehen und zur demokratischen Gestaltung der Gesellschaft beizutragen,
-
nach ethischen Grundsätzen zu handeln sowie religiöse und kulturelle Werte zu erkennen und zu
achten,
-
ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität
und der Toleranz sowie der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten,
-
den Gedanken der Völkerverständigung [...] zu erfassen und zu unterstützen und mit Menschen
anderer Nationen und Kulturkreise zusammenzuleben,
-
ökonomische und ökologische Zusammenhänge zu erfassen,
-
für die Erhaltung der Umwelt Verantwortung zu tragen und gesundheitsbewusst zu leben,
-
Konflikte vernunftgemäß zu lösen, aber auch Konflikte zu ertragen,
-
sich umfassend zu informieren und die Informationen kritisch zu nutzen, [...]
-
sich im Berufsleben zu behaupten und das soziale Leben verantwortlich mitzugestalten (ebd.).
Darüber hinaus wird die Selbständigkeit der Schüler als Ziel erwähnt, wie auch deren
Fähigkeit zur Weiterentwicklung nach der Schulzeit (vgl. ebd.).
Inwiefern diese genannten Lernziele auch in einer besonderen fachspezifischen
Betrachtungsweise Beachtung finden, soll das folgende Kapitel veranschaulichen. Es
7
Es sei auf die für diese Arbeit besonders relevanten Qualitätsmerkmale (QM) betreffend der
Persönlichkeitsbildung (QM 1.1) und Schlüsselqualifikationen (QM 1.3), sowie auf die Ausführungen
bezüglich der Lernangebote zur Stärkung der Persönlichkeit (QM 2.2) und der Unterrichtsgestaltung (QM
2.3) hingewiesen. Siehe dazu NK 2003, 10ff.
8
Die alte Verfassung datiert vom 3. März 1998 (Nds. GVBI. S. 137) und wurde durch Artikel 11 des
Haushaltbegleitgesetzes vom 17.12.2004 (Nds. GVBI. Nr. 44, S. 664) in einigen Punkten aktualisiert, auf
die ich jedoch nicht weiter eingehen möchte, da dies den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen
würde.
9
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auf die elektronische Version.

1. Der Bildungsauftrag der Schule
5
soll deutlich werden, dass auch und im besonderen Maße das Unterrichtsfach Sport dem
geschilderten Bildungsanspruch gerecht werden kann und somit legitimiert ist, als Teil
des Bildungssystems zu fungieren.
2. Legitimation des Schulsports
Im internationalen Vergleich hat PISA gezeigt, dass die Bildungsausgaben in
Deutschland ­ gemessen am Bruttoinlandsprodukt ­ unter dem Durchschnitt der
OECD-Länder liegen (vgl. dazu http://www.pisa.ipn.uni-kiel.de). Daher bedarf es in
Zeiten von Bildungsreformen insbesondere für den Sportunterricht einer fundierten
Rechtfertigung. Denn, wie GRÖSSING treffend feststellt, entscheiden die
ökonomischen und normativen Grundlagen und Grundfragen einer Gesellschaft und deren
Bildungs-, Sozial-, und Sportpolitik [...] wesentlich mit darüber, welchen Stellenwert der
Schulsport im Kanon der Unterrichtsfächer einnimmt, wie viel Stunden in der Woche ihm
eingeräumt werden, wie die Ausstattung der schulischen Sportanlagen und die Ausbildung der
Sportlehrer aussehen (
GRÖSSING
1997, 29).
Insbesondere von gesellschaftlicher Seite wird die Relevanz des Sports häufig
hinterfragt: Wie kann ein körperbetontes und freizeitorientiertes Fach den
Anforderungen eines marktwirtschaftlich ausgerichteten Gesellschaftsanspruchs gerecht
werden (vgl. BALZ 2000, 38)?
Jedoch bietet insbesondere der Sportunterricht, der eine Sonderrolle zwischen
,,Sitzfächern" wie Deutsch, Geschichte oder Biologie einnimmt, eine Vielzahl an
pädagogischen Möglichkeiten. Als Beispiel soll hier das im Schulgesetz
festgeschriebene Lernziel der Verbesserung der sozialen Kompetenz dienen. Sport ist
bezüglich der Sozialerziehung aus verschiedensten Gründen mit hohen Erwartungen
verknüpft.

2. Legitimation des Schulsports
6
Er wirkt sich positiv auf die verschiedensten Sozialisationsprozesse aus, da
er oft in Gruppen stattfindet und die Schüler sich entsprechend eingliedern
müssen,
verschiedene Grundqualifikationen für Rollen-Handeln gemäß der
Interaktionistischen Rollentheorie gelernt werden,
10
die Schüler mit individuellen Leistungsunterschieden umgehen müssen,
oft mit Körperkontakt umgegangen werden muss,
gelernt werden muss Regeln zu akzeptieren und Prinzipien der Fairness zu
beachten,
gelernt wird mit Konflikten umzugehen und Solidarität zu zeigen, etc. (vgl. zu
dieser Aufstellung: KOTTMANN/BRUX 1987, 19ff., PÜHSE
1999, 215ff.,
FUNKE-WIENECKE 1997, 28ff. und GRÖSSING
1997, 143ff.).
Hier setzen BALZ und NEUMANN an und betonen, dass ,,dem Unterrichtsfach ,Sport',
wie jedem anderen Schulfach auch, ein verpflichtender Erziehungs- und
Unterrichtsauftrag zu Grunde" liegt (BALZ/NEUMANN 1999, 163). Der Schulsport
soll also an der Erfüllung zweier wesentlicher Erziehungsziele mitwirken: Er soll zum
einen sportartenspezifisches Können und Wissen vermitteln und zum anderen
erzieherisch wirksam sein und damit u.a. zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen. In
diesem Sinne unterliegt der Sport einem ,,doppelten Bildungsauftrag" (KURZ 2000, 73
ff.).
Hier stellt sich die Frage, ob für ein ,,Bewegungsfach" der Erziehungsanspruch
nicht überbewertet ist und zu übertrieben ausgelegt wird (vgl. ebd., 162): Kann
Sportunterricht überhaupt eine erzieherische Funktion übernehmen? Was kann vom
Sport neben der ,,Ausbildung sportlicher Kompetenzen und eine[r] Einführung in
sportliche Handlungskontexte" noch geleistet werden (BALZ/NEUMANN 1999, 163)?
Wie und was kann über den Erwerb motorischer Fähigkeiten hinaus vom Bockspringen,
Völkerball und Tischtennis gelernt werden? Und was ist hier überhaupt unter Erziehung
zu verstehen?
GRUPE und KRÜGER definieren Erziehung als ,,diejenigen Maßnahmen und
Prozesse [...], die den Menschen befähigen, seine Kräfte und Möglichkeiten zu
entfalten und mit Hilfe derer er selbständig und mündig werden kann"
10
Vgl. dazu ausführlich:
UNGERER
-
RÖHRICH
u.a. 1990, 19ff.

2. Legitimation des Schulsports
7
(GRUPE/KRÜGER 1997, 62). Darüber hinaus bezeichnen sie ,,sowohl das konkrete
erzieherische Handeln einzelner Erziehungspersonen als auch die unterschiedlichen
Sinnbezüge und die strukturellen Zusammenhänge, in die Erzieher, zu Erziehende und
Erzogene eingebunden sind" als Erziehung (ebd., 65). Sie unterscheiden dabei
intentionale und funktionale Erziehung, wobei stets die Lehrkraft der entscheidende
Faktor ist.
11
Es unterliegt ihrem Gutdünken die Schüler intentional ­ also mit Absicht
und zumeist auf der Grundlage von Verbesserungen ihrer Fertigkeiten und Fähigkeiten
­ oder funktional zu erziehen. Letztere Alternative umschreibt den ,,automatischen"
Erwerb bestimmter immanenter Bildungsinhalte, ohne dass es einer speziellen
Aufbereitung bedarf (vgl. ebd.).
Die Beziehung zwischen Lehrkraft und Schülern hat, ob intentional oder
funktional, immer einen erzieherischen Charakter. MEYER führt diesen Gedanken
sogar noch weiter und behauptet, dass Unterricht ohne Erziehung nicht denkbar ist, weil
die institutionalisierte Form schulischer Erziehung starken Einfluss auf den Unterricht
hat (vgl. MEYER 1997, 27). Diese Auffassung wird von UNGERER-RÖHRICH,
SINGER, HARTMANN und KREITER bekräftigt: Demnach beeinflusst das Handeln
der Lehrkraft durch die ,,Art seiner Unterrichtsgestaltung, wie er mit seinen Schülern
umgeht, wie er Beziehungsprobleme behandelt, wie er die motorischen Lernziele
anzustreben versucht" das soziale Handeln der Schüler und nimmt auf diese Weise
erzieherischen Einfluss (UNGERER-RÖHRICH u.a. 1990, 16).
Anknüpfend an den Entwurf des NK sieht BALZ jedoch nicht nur einen
doppelten, sondern einen dreifachen Bildungsauftrag seitens des Schulsports vor. Er
liefert drei grundsätzliche Legitimationsgründe des Sportunterrichts:
1. Erziehung zum Sport:
Es soll zu einer Sportartenkompetenz erzogen werden, die die Schüler in den
Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Sportart schult und sie im Optimalfall ,,zum
lebenslangen Sporttreiben" animiert. Der physisch-motorische Bereich steht dabei im
Vordergrund.
2. Erziehung im Sport:
Es soll zu einem selbständigen Handeln im Sport kommen, d.h. die Schüler sollen in der
Lage sein sich sinnorientiert mit einer sportlichen Aktivität auseinander zu setzen.
11
Zur besonderen Position der Lehrerrolle vgl. Kapitel III.2.3.1 dieser Arbeit.

2. Legitimation des Schulsports
8
Dabei wird die Mehrperspektivität besonders betont:
12
Aus mehreren Beweggründen
soll eine (oder mehrere, sicher aber die individuell richtige) Sinnrichtung gefunden
werden, die den Jugendlichen an der entsprechenden Sportart Gefallen finden lässt und
ihn/sie zum weiteren Sporttreiben anregt.
3. Erziehung durch Sport:
Der Sport soll als ein bereicherndes Element verstanden werden, das den Schülern
Möglichkeiten bietet, ihr Leben mit Sinn zu füllen.
Ich habe mich bei der Auswahl der in der Fachliteratur aufgeführten
Erziehungsziele des Schulsports an die gängigsten gehalten. Viele Ansichten
wiederholen sich oder werden in abgeänderter Form präsentiert. Dem entgegen steht die
Position derer, die den überhöhten Erziehungsanspruch und das Überhäufen des
Schulsports mit pädagogischen Zielen thematisieren (vgl. BALZ/NEUMANN 1999,
162ff.). Demnach erscheinen das Verständnis einzelner Aufgaben und Ziele des
Schulsports sowie einzelne Definitionen grundsätzlicher Begrifflichkeiten schwammig
und nicht klar trennbar.
Zudem beleuchten die genannten Überlegungen die Thematik der Erziehung
sehr einseitig aus der Perspektive der Lehrer. Sie lassen die Position der Schüler, die im
Mittelpunkt des Interesses stehen sollten, auffällig unangetastet. Lediglich BALZ und
NEUMANN weisen darauf hin, dass es einem gewissen Grad an Freiwilligkeit von
Seiten der Schüler bedarf um sie überhaupt in irgendeiner Form zu erreichen.
Ausschlaggebend für die Wirksamkeit aller Erziehungsintentionen ist die Akzeptanz
seitens der Schüler. Ohne ,,dialogische Auseinandersetzung" ist die von vielen Seiten
angestrebte ,,Erziehung [...] zur Selbsterziehung" nicht umsetzbar (BALZ/NEUMANN
1999, 164).
Weiterhin darf die Diskussion über den Erziehungsauftrag der Schule allgemein
und den Sportunterricht im Speziellen nicht darüber hinweg täuschen, dass der
Unterricht, in welchem Fach auch immer, lediglich einer von vielen Einflussfaktoren
ist, die eine erzieherische Wirkung auf Jugendliche ausüben. Während der Entwicklung
steht eine Person stetig sein Leben lang in Interaktion mit seiner Umwelt so dass ,,sich
daraus sein Verhalten und Erleben beeinflussende Konsequenzen ergeben"
12
Vgl. dazu Kapitel I.2.1 dieser Arbeit. Das didaktische Konzept der Handlungsfähigkeit beinhaltet
Näheres zum Gesichtspunkt der Mehrperspektivität.

2. Legitimation des Schulsports
9
(FRÖHLICH/WELLEK 1972, 661). Familie, Kindergarten, Schule, Freunde und
Bekannte stellen soziale Bezugssysteme dar, die im alltäglichen Zusammenleben
Interaktionen hervorrufen. In derartige ,,Sozialisationsinstanzen" ist jeder eingebunden
und entwickelt folglich gewisse Interaktionsfähigkeiten (UNGERER-RÖHRICH u.a.
1990, 13).
Dem zu Folge muss, wenn von Wirksamkeit eines bestimmten pädagogischen
Prinzips die Rede ist, dies stets in Relation mit anderen Bezugsystemen gesehen
werden.
Wie nun die genannten (wenngleich auch nicht deutlich voneinander
abgrenzbaren) Erziehungsziele in die Tat umgesetzt werden sollen, möchte ich im
anschließenden Teil verdeutlichen. Hier sollen verschiedene fachdidaktische
Entwicklungen vorgestellt werden, wobei hervorgehoben werden muss, dass auch in der
methodischen Betrachtung kein allgemeiner Konsens besteht. Ich halte mich im
Folgenden bei der begrifflichen Einordnung an BALZ' Definition des fachdidaktischen
Konzepts als ,,ein systematischer gedanklicher Entwurf [...], der für die pädagogische
Gestaltung des Schulsports bestimmte Ziele, Inhalte und Methoden empfiehlt" (BALZ
1992, 14).
2.1 Fachdidaktische Konzepte
Die folgende Graphik soll einen Überblick über die Vielfalt der didaktischen Modelle
bieten. Sie genügt jedoch keinesfalls dem Anspruch auf Vollständigkeit. Ich habe mich
im Sinne dieser Arbeit auf einige wesentliche, oft in der Literatur der Sportdidaktik
diskutierte Konzepte beschränkt, die ich für geeignet halte einen Überblick zu liefern.
Didaktische
Leitidee
(Zielebene)
Sportartenprogramm
: Didaktik reduzierter
Ansprüche
Handlungsfähigkeit
: Pragmatische
Fachdidaktik
Körpererfahrung
: Sportkritische
Fachdidaktik
Endpädagogisierung
: Antididaktik des
Sports
Hauptvertreter
SÖLL KURZ
FUNKE
VOLKAMER
Sachbezug
(Inhaltsebene)
Sport im engeren
Sinne
Sport im weiteren
Sinne
Bewegung, Spiel
und Sport
Sport
Vermittlungsansat
z (Methodenebene)
geschlossen mehrperspektivisch
Auf
Verständigung u.
Öffnung angelegt
individualistisch
Schulische und
gesellsch.
affirmaiv komplementär
korrektiv
entschulend

2. Legitimation des Schulsports
10
Funktion
Abb.1 Fachdidaktische Konzepte im Überblick (Abbildung nach BALZ 1992, 18)
2.1.1 Das Sportartenprogramm
Das Sportartenprogramm ist ein konventionelles und im Schulalltag durchaus gängiges
Konzept, das die Schüler ,,durch die Ausbildung motorischer Fähigkeiten und
Fertigkeiten für den außerschulischen Sport zu qualifizieren" versucht
(BALZ/NEUMANN 1999, 172). Dabei sollen die Schüler durch eine effiziente,
geschlossene und lehrerzentrierte Lehrweise zu einem lebenslangen Sporttreiben
bewegt werden. KURZ erweitert die Zielsetzung dieser Methodik um zwei weitere
Aspekte: Die ,,Förderung von Interessen, die über den Schulsport hinausgehen" und
,,die Ausbildung von Urteilsfähigkeit" (KURZ 2000, 73).
Es wird fast ausschließlich mit traditionellen Sportarten wie Geräteturnen,
Leichtathletik und gängigen Sportspielen gearbeitet. Nicht ohne Grund bezeichnet
GRÖSSING dieses Konzept als den ,,leichte[n] Weg, sowohl in der Theorie als auch in
der Praxis des Sportunterrichts" (GRÖSSING 1997, 24).
Meines Erachtens entspricht dieses Konzept jedoch nicht den aktuellen
sportpädagogischen Erkenntnissen, weil es keinen Anspruch auf erzieherische Wirkung
durch Sportunterricht erhebt. Es sollen hier lediglich auf effizienteste Art und Weise
sportliche Techniken gelehrt werden, und dabei wird das ausgeklammert, was beim
Sporttreiben sonst noch erfahren und/oder gelernt werden kann. Auch die Vermittlung
seitens der Lehrkraft ist traditionell geprägt und längst überholt: Wer als Pädagoge noch
immer deduktiven Unterricht mit fertigkeitsbezogener Methodenwahl hält um lediglich
möglichst fachkompetent sportliches Können zu schulen, kann dem Bildungsauftrag
heute nicht mehr genügen.
2.1.2 Die Körpererfahrung
Bei dem Konzept der Körpererfahrung liegt der Fokus anders als beim gerade
skizzierten Sportartenprogramm auf dem Körper als solchen. Dabei lautet die
Zielsetzung, dass die Schüler eine gewisse Sensibilität dem eigenen Körper gegenüber
aufbauen. Sie sollen Erfahrungen im Umgang mit Bewegungsaufgaben sammeln und
erkennen, wie ihr Körper reagiert, sich bewegt und funktioniert. Darüber hinaus spielen
Aspekte der Körpererziehung mit sportlichen, hygienischen und sozialen Lernzielen

2. Legitimation des Schulsports
11
eine Rolle.
13
Bei diesem Konzept finden nicht nur traditionelle Sportarten, sondern auch
spezielle Berührungs- und Wahrnehmungsspiele, Entspannungsübungen, Atemübungen,
Saunabaden, Sinnesübungen und Bewegungsspiele in der Natur Verwendung.
14
Dabei
treten ,,konventionelle Lehrverfahren [...] hinter erfahrungsoffenen
Unterrichtssituationen zurück", bei denen die Lehrkraft die Rolle des Anleiters ablegt,
passiver agiert und die Unterrichtsgestaltung und -führung in die Verantwortung der
Schüler legt (BALZ 1992, 17).
Dieses Konzept halte ich für sehr sinnvoll, und daher spielt es in der späteren
fachdidaktischen Begründung meiner Unterrichtskonzeption sowie in der Planung und
Durchführung der Unterrichtseinheit eine wesentliche Rolle. Allerdings ist zu
berücksichtigen, dass, sobald es z.B. um Beurteilungen und Leistungsbewertungen der
Schüler geht, dieses Konzept auch an seine Grenzen stößt.
15
Daher sollte es
vornehmlich als ein bereichernder Teilaspekt des Unterrichts verstanden werden, der ein
abwechslungsreiches Element bietet. Der Unterricht sollte jedoch meiner Meinung nach
nicht ausschließlich darauf basieren.
2.1.3 Die Endpädagogisierung
Ähnlich dem methodischen Vorgehen des Konzepts der Körpererfahrung sind bei der
Methode der Endpädagogisierung die Bewegung und der eigene Körper entscheidender
Gegenstand des Unterrichts. Es wird allerdings kein erzieherischer Anspruch erhoben.
Der Sport hat in diesem Konzept auch ohne ,,Überforderung [...] durch pädagogische
Zielorientierungen" positive Auswirkungen auf die Schüler, die sich gewissermaßen aus
der Sache selbst ergeben (ebd.). Zwanglosigkeit und selbstbestimmtes Leisten-Können
sind die wesentlichen Merkmale dieses Ansatzes.
16
Es ist nachvollziehbar, dass unter bestimmten Voraussetzungen durchaus die
Gefahr einer pädagogischen Überfrachtung des Sportunterrichts durch die Lehrkraft
13
Gesundheitserziehung kann in dieses Konzept integriert werden. Ich gehe an dieser Stelle nicht näher
gesondert darauf ein. Bei besonderem Interesse zu diesem Thema ist RAUSCHER (1999) als
weiterführende Literatur zu empfehlen.
14
Auch die Umwelterziehung kann als eigenständiges fachdidaktisches Konzept betrachtet werden. Da
ich mich jedoch unter Kapitel I.3.3.1.2 .näher damit beschäftige, möchte ich an dieser Stelle nicht weiter
darauf eingehen.
15
Vgl. dazu Kapitel III.2.2 dieser Arbeit.
16 Vgl. dazu auch VOLKAMER 1987, 20ff.

2. Legitimation des Schulsports
12
besteht. Aber es ist auch bestenfalls naiv davon auszugehen, dass sich pädagogische
Zielsetzungen wie z.B. Identitätsbildung und Sinnfindung durch den Sport von ganz
allein einstellen, da er ,,unmittelbar sinnvoll" (ebd., 15) ist: Gänzlich ohne leitende
Vorgaben Sport zu treiben und überspitzt formuliert lediglich darauf zu warten,
dass sich Auswirkungen von selbst ergeben, halte ich für äußerst fragwürdig.
Ein guter Unterricht sollte m.E. auch den Rahmen für zweckfreies Sporttreiben
bieten, denn häufig erleben die Schüler in solchen Momenten den Spaß an der
Bewegung, und der Sport gerät nicht in die Gefahr institutionell vereinnahmt bzw.
pädagogisch überladen zu werden (vgl. ebd.). Dennoch schließt das eine das andere
nicht aus: Auch Sport, der einen speziellen didaktischen Hintergrund hat und eine
Zielsetzung verfolgt, kann und v.a. sollte auch Spaß machen.
2.1.4 Die Handlungsfähigkeit
Das Konzept der Handlungsfähigkeit
17
dagegen unterscheidet sich in einem ganz
entscheidenden Aspekt von dem Konzept der Endpädagogisierung: Hier steht sehr wohl
die pädagogische Wirksamkeit des Sports für die Schüler im Vordergrund. Durch dieses
Konzept soll der in Kapitel I.2 dargestellte doppelte Bildungsauftrag erfüllt werden.
Demnach soll nicht nur eine Sportart gelehrt und das damit zusammenhängende Wissen
vermittelt werden, sondern auch erzieherischer Einfluss geltend gemacht werden.
Detaillierter dargestellt lautet die Zielsetzung dieses Konzepts ,,die umfassende
Handlungskompetenz innerhalb eines breit angelegten Handlungsfeldes Sport" zu
verbessern (GRÖSSING 1997, 23). Im Sinne dieser Leitidee gelten Schüler als
handlungsfähig, wenn sie ,,in der Lage sind, aus der Vielfalt sportlicher Sinnbezüge
einige ihnen angemessene Formen zu finden und diese im eigentlichen Sporttreiben
befriedigend, vielleicht sogar lebensbereichernd zu verwirklichen" (BALZ 1992, 14).
Den Schülern soll eine möglichst große Palette an Möglichkeiten offeriert werden, aus
der dann die entsprechende individuelle Motivation zum Sporttreiben erwachsen soll.
Die Schüler sollen hinterfragen, was der Sport, den sie gerade treiben, für ihr
persönliches Leben bedeutet. So ist es möglich, sportliche Aktivitäten auf sinnvolle
Weise in den Alltag der Schüler zu integrieren.
17
Ausführlich dazu EHNI 1979, 42f..

2. Legitimation des Schulsports
13
Jedoch ist laut KURZ ,,die Voraussetzung dafür, dass Schüler aus einer Aufgabe
aus dem Sport etwas für ihr Leben Bedeutsames lernen,[...][die], dass sie sich erstmal
auf die Aufgabe einlassen, ohne sofort an einen späteren Nutzen zu denken" (KURZ
2000, 76). Daher formuliert er sechs Sinnbezüge, um zu gewährleisten, dass jeder
angesprochen und motiviert wird. Diese Sinnbezüge beinhalten sinngemäß folgende
Aussagen:
1. Sport ermöglicht es, die Wahrnehmungsfähigkeit zu verbessern und
Bewegungserfahrungen zu erweitern.
2. Sport kann die Fitness verbessern und ein Gesundheitsbewusstsein entwickeln.
3. Sport führt zu einem gemeinsamen Handeln, Spielen und Kommunizieren.
4. Durch Sport kann das Leisten erfahren und reflektiert werden.
5. Sport ermöglicht es, sich körperlich auszudrücken und Bewegungen zu
gestalten.
6. Im Sport kann vieles gewagt und verantwortet werden(vgl. ebd., 74).
Ich stimme damit überein, dass auf diese Weise den Schülern zu einem durchdachten
und selbst verantworteten Verhältnis zum Sport verholfen werden kann. Es ist m.E.
durchaus erstrebenswert die Schüler an der Planung, Durchführung und Auswertung des
Unterrichts zu beteiligen" (KURZ 1992, 199).
Sicherlich stoßen bei der Umsetzung einige Lehrer an ihre Grenzen. Jedoch
sollten Pädagogen auch diesen didaktischen Entwurf in ihr persönliches Repertoire
aufnehmen, denn ich bin überzeugt, dass es die Kombination der verschiedenen
Konzepte ist, die einen vielfältigen und qualitativ guten Unterricht ermöglicht. Sie
sollten einander nicht ausschließen, sondern ergänzend wirken und Alternativen bieten.
Im Folgenden wird daher das integrativ-unterrichtstheoretische Konzept
vorgestellt, das ich für eine geeignete Alternative zu den gängigen Konzepten halte.
GRÖSSING erkennt die Vereinbarkeit der verschiedenen Ansätze und stellt darauf
basierend ein Konzept vor, das mehrere Aspekte einzelner Positionen zusammen führt.

2. Legitimation des Schulsports
14
2.1.5 Das integrativ-unterrichtstheoretische Konzept
Hierbei handelt es sich um
ein integratives Konzept, daß Sportarten, offene Bewegungshandlungen und die Übungen der
Körpererfahrungen in den pädagogischen Auftrag des Schulsports einbindet und im
Sportunterricht das zentrale Geschehen der Verwirklichung der erzieherischen Absichten erblickt
(ebd.).
Anders als bei BALZ wird von lediglich zwei grundsätzlichen Aufgaben des
Schulsports ausgegangen: der Erziehung zum Sport und der Erziehung durch Sport.
Die Erziehung zum Sport hat die Zielvorgabe, sportliches Handlungsvermögen
zu vermitteln und verbessern. Ähnlich wie in BALZ' Ausführungen steht dabei die
Leistungssteigerung im Vordergrund. Jedoch spielt für GRÖSSING die Erweiterung der
sportlichen Handlungsfähigkeit eine ausschlaggebende Rolle. Bei der Erziehung durch
Sport unterstreicht GRÖSSING in erster Linie die Persönlichkeitsbildung mit Hilfe des
Sports.
Diese beiden Zielvorgaben, die, so hebt er ausdrücklich hervor, in jeder Aktion
des Schulsports stets präsent sind und gleichzeitig wirken, sollen Berücksichtigung
finden ,,in der Behandlung aller Unterrichtselemente, der Ziele, Inhalte, Verfahren und
Organisationsformen und aller Rahmenbedingungen des Sportunterrichts" (ebd., 28).
Das Konzept gliedert sich in drei Theorieebenen: Die ,,Bedingungsebene", die
,,Entscheidungsebene" und die ,,Auswertungsebene". GRÖSSING zeigt, in welcher Art
die Voraussetzungen des Unterrichts (Rahmenbedingungen wie Schule, Politik, Schüler
und Lehrkräfte), die Durchführung (Entscheidungen über Lernziele, methodische
Vorgänge, Unterrichtsmittel und Inhalte) und schließlich die Auswertung (die Analyse
und Beschreibung des gehaltenen Unterrichts) mit einbezogen werden müssen um eine
fundierte Basis für das Konzept zu gewährleisten.
Im Zuge des Legitimationsversuches wurde der Sportunterricht bislang vom
curricularen Bildungsanspruch
18
aus beleuchtet und anschließend in einen
fachdidaktischen Rahmen eingebettet. Im Folgenden soll nun eine klare Zielsetzung
formuliert werden, die der moderne Sportunterricht für sich beanspruchen kann.

2. Legitimation des Schulsports
15
2.2 Aufgaben und Ziele des Schulsports
Die fachspezifischen Lernziele des Schulsports fußen auf dem in Kapitel I.1
beschriebenen allgemeinen Bildungsauftrag der Schule, der sich in fachliche und
erzieherische Aufgaben gliedert. Unter letztgenanntem Punkt fallen
persönlichkeitsentwickelnde Förderungen, die den Heranwachsenden hilfreich sein
sollen sich möglichst problemlos in ein von der Gesellschaft geprägtes Werte- und
Normensystem einzugliedern.
An dieser Stelle setzt GRÖSSING an und weist explizit darauf hin, dass die
Lernziele eines Unterrichtsfaches [...] mit den gesellschaftlichen Zuständen und sozialen
Normen verwoben, in der Bildungs- und Schultradition verankert, den weltanschaulichen und
politischen Grundfragen einer Epoche verpflichtet und von wissenschaftlichen Erkenntnissen
und Entwicklungen beeinflusst [sind] (GRÖSSING 1997, 96).
Mit anderen Worten beanspruchen die Lernziele des Schulsports, die im Folgenden
dargestellt werden, keinen Anspruch auf uneingeschränkte Gültigkeit. Es bedarf einer
ständigen Aktualisierung, bei der aktuelle Strömungen und Tendenzen in den
angesprochenen Bereichen berücksichtigt werden müssen.
Die Grundsätze des Schulsports enthalten zwei zentrale Bezugspunkte, die seine
Aufgaben grob umreißen: Man spricht von der Bewegungsentwicklung und der
Bewegungskultur.
Unter der Bewegungsentwicklung ist die Förderung der ,,körperlichen,
kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung" (NK 2005, 5)
19
der Schüler zu
verstehen. Zudem wird ,,das Erleben und Erfahren der eigenen Körperlichkeit", sowie
ein ,,möglichst umfassendes Verständnis von Gesundheit und Wohlbefinden"
thematisiert (ebd.). Dabei ist zu beachten, dass affektive, motorische, kognitive und
soziale Ebenen untereinander vernetzt sind. Sie lassen sich nicht trennen, d.h. separat
lehren: Der Erwerb einer neuen Sportart beinhaltet immer das Erlernen neuer
motorischer Grundqualifikationen. Jedoch ist die motorische nicht von der kognitiven
Ebene zu trennen, da eine genaue Bewegungsvorstellung an deren korrekte Ausführung
18
Unter den Begriff des Sportcurriculums fallen die im Lehrplan festgehaltenen Ziele, Methoden und
Kontrollverfahren für den Sport (vgl. GRUPPE/KURZ 1992, 106).
19
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2. Legitimation des Schulsports
16
gekoppelt ist, und umgekehrt. Und auch die affektiven und sozialen Bereiche werden
berücksichtigt, da die motorische Leistung mitunter auch vom sozialem Miteinander,
dem Interesse und der Motivation abhängt.
Unter dem Begriff der Bewegungskultur wird der Anspruch zusammengefasst,
den Schülern einen persönlichen Zugang zum Sport zu gewährleisten. Dabei sollen
ihnen Sinnperspektiven aufgezeigt werden, so dass sie aus dem weiten Angebot der
Sportmöglichkeiten ,,unter den Aspekten Gemeinschaftserleben, Risiko, Abenteuer,
Gestaltung [...], Leistungssteigerung und Leistungsvergleich" ihre individuelle
Motivation für das Sporttreiben erfahren (ebd.). Auf diese Weise sollen sie nicht nur
eine Urteils- und Entscheidungsfähigkeit entwickeln, sondern auch den Sport als Teil
der Gesundheits-, Sozial-, Umwelt- und Freizeiterziehung schätzen lernen (vgl. ebd.).
Ein vielseitiges Bewegungsangebot, das die Forderung nach Mehrperspektivität
erfüllt, bietet den Schülern die Chance eine für sie spezielle, individuell optimale
Sportart zu entdecken, die ihnen nicht nur Spaß macht, sondern ihnen auch darüber
hinaus etwas bietet: Sie soll bereichern, Sinn geben und alle Aspekte, die unter dem
weiten Begriff der Persönlichkeitsbildung fallen, positiv beeinflussen, so dass es im
Optimalfall zum ,,lebenslangen Sporttreiben" der Schüler kommt (BALZ 2000, 39).
Weitere Zielsetzungen werden vom NK in verschiedene Kategorien
zusammengefasst. Folglich gilt es drei Kompetenzbereiche bezüglich des
Sportunterrichts zu fördern, um dem Bildungsauftrag gerecht zu werden: Die
Sachkompetenz, die Selbstkompetenz und die Sozialkompetenz.
20
Die Sachkompetenz beinhaltet ,,das spiel-, bewegungs-, körper- und
sportbezogene Können und Wissen" (NK 2005, 7) und schließt z.B. Kenntnisse
ökologischer Aspekte von Bewegungsaktivitäten, Lern- und Trainingsprozessen,
verschiedene Ausdrucksformen von Bewegungen sowie Bewertungskriterien und
verschiedene Sinnorientierungen mit ein.
Die Selbstkompetenz umfasst in erster Linie die Identitätsentwicklung. Dazu
gehört die Fähigkeit verantwortungsbewusst zu handeln,
21
Entscheidungen zu treffen
und zu begründen, die eigene Leistungsfähigkeit angemessen zu beurteilen und mit
20
Eine detaillierte Auflistung aller Lernziele findet sich ausformuliert unter:
http://cdl.niedersachsen.de/blob/images/C340871_L20.pdf.
21
ALTENBERGER differenziert zwischen Verantwortung des Individuums für den eigenen Körper und
das Sporttreiben, für den Mitsporttreibenen und für natürliche und materielle Umwelt beim Sport. Vgl.
dazu ALTENBERGER 1997, 52ff.

2. Legitimation des Schulsports
17
Ängsten im Sportunterricht umgehen zu können. Zudem gehört es im Sinne der
Körpererfahrung dazu eine gewisse Sensibilität dem eigenen Körper gegenüber zu
entwickeln und damit einhergehend zu der Erkenntnis zu gelangen, welche positiven als
auch negativen Wirkungen der Sport auf den Körper haben kann.
22
Die Sozialkompetenz schließlich soll die Schüler dazu befähigen sozial
verantwortungsbewusst zu handeln und die Gemeinschaft, deren Mitglied sie im
Rahmen des Unterrichts sind, durch ihre aktive Mitwirkung im gemeinsamen
Sporttreiben zu stärken und zu formen. Dabei ist es unumgänglich sich sowohl mit
kulturellen, als auch geschlechtlichen und soziologischen Divergenzen innerhalb einer
Gruppe auseinanderzusetzen und diese zu respektieren (vgl. NK 2005, 8).
Ich verzichte an dieser Stelle bewusst auf eine Abhandlung über Sinn und
Unsinn von Lernzielkontrollen. Es dürfte an Hand der Einteilung der einzelnen
Lernziele deutlich geworden sein, dass bezüglich der Zielsetzung erhebliche
Unterschiede in einzelnen Kompetenzbereichen bestehen. Daher muss von einer
Generalisierung bei der Überprüfung des Lernerfolgs abgesehen werden, zumal
Langzeitwirkungen und Transferleistung pädagogisch ausgerichteter Lernziele schwer
zu überprüfen sind.
23
BALZ und NEUMANN betonen die Bedeutung von Bewegungskulturen im
fächerübergreifenden und außerschulischen Bereich.
24
Hier möchte ich ansetzen und
eine Alternative präsentieren, die keineswegs den Anspruch erhebt neu zu sein, m.E.
jedoch nach wie vor und insbesondere in der aktuellen Lage der Bildungspolitik einen
interessanten Kontrast zu anderen sportpädagogischen Lehrmodellen darstellt: die
Erlebnispädagogik.
22
Näheres zur Ambivalenz des Sports in Kapitel I.3.5 dieser Arbeit.
23
Vgl. dazu GRÖSSING 2000, 98ff.
24
Vgl. dazu BALZ/NEUMANN 1997, 179ff.

3. Erlebnispädagogik
18
3. Erlebnispädagogik
Ich habe bereits in Kapitel II.1 das mittelmäßige Abschneiden deutscher Schüler bei der
PISA-Studie erwähnt. Dort ist von fächerübergreifenden Fähigkeiten und
Schlüsselqualifikationen die Rede.
25
Diese
sind nicht auf direktem Wege zu lernen, sondern müssen in Verbindung mit ,intelligentem
Wissen' aufgebaut werden, welches das Resultat von ,Lernkompetenz' ist. Hier liegen die
Stärken der Erlebnispädagogik, deren Elemente die genannten Fähigkeiten fordert und schult
(BRÜCKEL/SCHIRMER 2003, 119).
In diesem Kapitel soll beleuchtet werden, inwiefern dies der Fall ist und von welchen
Elementen der Erlebnispädagogik (im Folgenden EP abgekürzt) hier genau die Rede ist.
Ich möchte verdeutlichen, dass die EP den in Kapitel II.1 bzw. II.2 präsentierten
Bildungsauftrag umsetzen kann, erzieherisch tätig sein kann
26
und somit dem Anspruch
auf zeitgemäße schulische Bildung gerecht wird.
Dabei werde ich zunächst auf die Begrifflichkeit eingehen (II.3.1) und die
Zielsetzung der EP erläutern (II.3.2). Dann werde ich die geschichtliche Entwicklung
skizzieren und einige Variationen und Ausprägungen der EP nennen (II.3.2), bevor ich
die Besonderheiten sowie die Probleme des Sporttreibens in der Natur beleuchte
(II.3.3). Ich möchte zudem nicht unerwähnt lassen, dass es einiger Voraussetzungen
bedarf, damit die EP wirksam sein kann (II.3.4). Ich schließe dieses Kapitel mit einer
Behandlung der gängigsten Kritikpunkte (II.3.5).
3.1 Definition
EP ist eine ,,handlungsorientierte Methode, in der durch Gemeinschaft und Erlebnisse in
naturnahen oder pädagogisch unerschlossenen Räumen neue Raum- und
25
Vgl. dazu PISA-KONSORTIUM 2003, 1.

3. Erlebnispädagogik
19
Zeitperspektiven erschlossen werden, die einem pädagogischen Zweck dienen"
(HECKMAIR/MICHL 1998, 75).
Diese prägnante Definition soll nicht darüber hinweg täuschen, dass es gerade
bei der Verwendung der entsprechenden Begrifflichkeiten in diesem Bereich nicht
einfach ist einen Konsens zu finden.
27
Es sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt, dass es
eine Fülle von Definitionen gibt, die nur den Sport im Rahmen der EP zu kategorisieren
versuchen. NEUMANN nennt ihn ,,Wagnissport" (vgl. NEUMANN 2003, 25ff.),
BECKER bevorzugt ,,Abenteuersport" (vgl. BECKER 2002, 10ff.), und darüber hinaus
werden weitere alternative Begrifflichkeiten wie ,,Risiko-", ,,Extrem-", ,,Trend-" oder
,,Outdoorsport" gebraucht (vgl. NEUMANN 2003, 25ff.).
Ich möchte auf Grund der uneinheitlichen Verwendung der Begriffe den Leser
nicht unnötig verwirren. Daher verwende ich in Anlehnung an SCHLESKE (1991) in
dieser Arbeit den Begriff ,,Erlebnissport". Es handelt sich dabei um einen
Sammelbegriff, der historisch in dem Konzept der Erlebnistherapie von HAHN (1886-
1974)
28
verwurzelt ist.
Es bleibt fest zu halten, dass die EP wie auch immer der Sport, der die
Methode füllt, tituliert wird eine Möglichkeit bietet dem Bildungsauftrag der Schule
zu genügen. ZIEGENSPECK fasst treffend zusammen:
Die Erlebnispädagogik versteht sich als Alternative und Ergänzung tradierter und etablierter
Erziehungs- und Bildungseinrichtungen. Sie ist in der Reformpädagogik verwurzelt [...] und
gewinnt in dem Maße neuerlich an Bedeutung, je mehr sich Schul- und Sozialpädagogik
kreativen Problemlösungsansätzen verschließen. Als Alternative sucht die Erlebnispädagogik
neue Wege außerhalb bestehender Institutionen, als Ergänzung wird das Bemühen erkennbar,
neue Ansätze innerhalb alter Strukturzusammenhänge zu finden (ZIEGENSPECK 1994, 149).
26
FISCHER zufolge ist ,,Erziehung im engeren Sinne der Erlebnispädagogik [...] zielgerichtete und auf
Ganzheitlichkeit angelegte Planung, Vorbereitung, Durchführung und Auswertung erlebnispädagogischer
Prozessgestaltung mit dem Ziel, Selbst- und Umweltveränderungen in einem emotionalen,
motivationalen, sozial-kognitiven und praktisch-aktionalen Kontext zu bewirken" (FISCHER 1999, 76).
27
Zur Debatte über die Terminologie innerhalb der EP (,,Wagnis-" bzw. ,,Abenteuersport") vgl.
BALZ/NEUMANN 1999, 185f. u. ELFLEIN 1999, 152f.
28 Kurt Hahn war vielfacher Schulgründer, der mit sog. ,,Outward-Bound-Kursen" seine pädagogischen
Ideen umsetzen und verbreiten wollte. In diesen Kursen konfrontierte Hahn die Jugendlichen mit
,,erlebnispädagogisch relevanten und natursportlich akzentuierten Erziehungs- und Bildugsprogrammen"
(http://www.uni-lueneburg.de/einricht/erlpaed/institut_intro.htm). Näheres zur Erlebnistherapie Hahns im
Kapitel I.3.3.2.3 dieser Arbeit.

3. Erlebnispädagogik
20
3.2 Zielsetzung der Erlebnispädagogik
Die Zielsetzung der EP erschließt sich durch eine kritische Betrachtung der
gegenwärtigen Gesellschaft. Hier setzen viele Erlebnispädagogen an und zeigen
problembehaftete Entwicklungen der alltäglichen Lebenswelt auf.
29
So auch WITTE,
der explizit einige Missstände nennt:
Es herrscht ein Mangel an natürlichen Erfahrungsräumen durch die
Verstädterung bzw. die bauliche Struktur der Städte, was zu einer
Einschränkung der explorativen Tätigkeiten führt und bei Kindern und
Jugendlichen Entwicklungsdefizite hervorrufen kann. PRÄTORIUS und
MILANI betonen in diesem Zusammenhang die Verschlechterung der
psychomotorischen Entwicklung der Großstadtkinder.
30
Ein Überangebot von Waren, Geräten und modernen Technologien führt zur
,,Entkörperlichung" und einem von passiver Rezeptivität geprägten
Konsumverhalten (WITTE 2002, 37).
Es herrscht eine starke Medienpräsenz, die ein verzerrtes Bild der Realität
entstehen lässt und zu Reizüberflutung führt. Grundlegende Bedürfnisse des
Menschen wie das Ausleben der Abenteuerlust und des Bewegungsdrangs
finden durch diese ,,2nd-hand-Erlebnisse" keine Befriedigung (WITTE 2002,
36ff.). Zudem wird das Wahrnehmen vermehrt auf das Sehen reduziert und
andere Sinnesorgane werden nicht gefordert.
HECKMAIR und MICHL fügen ergänzend hinzu, dass durch die Sicherheit der
modernen Gesellschaft individuelle Risiken fast nicht vorhanden sind und es dadurch zu
einer ,,Erlebnisarmut [in] einer reglementierten und durchorganisierten Welt" kommt
(HECKMAIR/MICHL1994, 59).
31
NEUMANN spricht gar von einer Spannungsarmut,
die zu dyssozialen Verhaltensweisen führen kann (vgl. NEUMANN 1998, 5).
29
Vgl. dazu in dieser Arbeit: Kapitel I.3.3.2.2 und 3.3.2.3.
30
Die Autoren verweisen auf die Tatsache, ,,dass durch Bewegungsmangel grundlegende physische
Funktionen eingeschränkt werden", was in Wechselwirkung mit gesundheitlichen Folgen steht
(PRÄTORIUS/MILANI 2004, 172). Insbesondere die allgemeine Koordinationsfähigkeit und die
statische Gleichgewichtsfähigkeit von Kindern aus Großstädten verschlechtern sich. Allerdings zeigen sie
an Hand einer Studie mit 163 Schüler aus Essen, dass große Unterschiede zwischen Kindern mit
verschiedenen Sozialisationsbedingungen bestehen. Vgl. dazu ebd.,172ff.
31
Hier sind unmittelbare, kalkulierbare und fassbare Risiken gemeint. Die Risiken der modernen
Gesellschaft sind laut HECKMAIR/MICHL global und versteckt: Umweltverschmutzung, Belastung der
Lebensmittel durch Schadstoffe etc.

3. Erlebnispädagogik
21
SCHULZE stellt bei einem soziologisch fundierten Blickwinkel eine
Individualisierungstendenz fest, die in ,,Entwurzelung, Sinnverlust, Kontaktunfähigkeit
[und] Einsamkeit" resultiert (SCHULZE 1997, 18).
An Hand dieser gesellschaftlichen Analysen wird deutlich, dass der ,,urbane
Lebensstil" psychische und physische Schäden nach sich zieht (LORCH 1995, 12). ,,So
entsteht bei vielen Menschen das Bedürfnis nach Abwechselung, nach neuen
körperlichen und geistigen Herausforderungen in einer [...] intakten Natur und
Umwelt" (SEEWALD/KRONBICHLER/GRÖSSING 1998, 169). An diesem Punkt
setzt die EP an, die die pädagogisch wertvollen Erfahrungen
32
bietet, an denen es
offensichtlich fehlt.
Die Zielsetzung der EP ist eng mit derartigen Erfahrungen verknüpft.
Erlebnisreiches Sporttreiben in einem natürlichen Umfeld ist meistens mit einer
speziellen Wagnissituation
33
verbunden und kann ­ vorausgesetzt die Situation wird
unbeschadet überstanden ­ zu einer Angstbewältigung,
34
einer aktiven Selbst-
ermutigung und auch zur Persönlichkeitsfindung beitragen (vgl. NEUMANN 1998, 8).
Sporttreibende werden in einer erlebnispädagogischen Situation durch eine
Aufgabe herausgefordert, müssen sich dementsprechend bewähren und lernen dabei
sich selbst und die eigene Leistungsfähigkeit besser einzuschätzen. Oftmals geht der
Sportler völlig in der Aktivität auf und es kommt zum sog. ,,Flow-Erlebnis". Dies ist
durch einen Gefühlszustand gekennzeichnet, der den Sportler den Prozess als
einheitliches Fließen von einem Augenblick zum nächsten erleben lässt. Er betrachtet in
einem solchen Zustand nicht mehr die ursprünglich gesetzte Absicht (z.B. das Erreichen
des Gipfels bei einer Bergbesteigung), sondern die Handlung an sich (z.B. das Klettern)
als Ziel.
35
Durch die Auseinandersetzung mit den erhöhten Anforderungen einer
Wagnissituation kann es zu einer ,,Verbesserung der Wahrnehmungsfähigkeit und der
32
Erfahrungen beziehen sich laut RIEDER ,,auf intensiv wahrgenommene und reflexiv verarbeitete
Ereignisse und Erlebnisse, die aktiv oder passiv als Eigen- und/oder Fremderfahrung registriert werden.
Je nach Vorzeichen können sie künftiges Verhalten eines Individuums handlungsleitend [...] stimulieren
und steuern" (RIEDER 1992, 149).
33
Laut NEUMANN bedeutet ,,Sich wagen" im Sport ,,eine individuell reizvolle Bewegungsaufgabe mit
ungewissem Ausgang als Herausforderung [zu] akzeptieren und diese [...] mit eigenen motorischen
Mitteln, sprich eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, zu bewältigen" (NEUMANN 1998, 8).
34
Vgl. dazu Kapitel III.2 dieser Arbeit.
35
Vgl. dazu WITTE, 2002 17f, RÖTHIG 1992, 166f. und STOLL/KIEFER 2003, 71ff.
Ende der Leseprobe aus 121 Seiten

Details

Titel
Kanu-Wildwasserfahren als Kursangebot im Rahmen der gymnasialen Sekundarstufe II
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen
Note
1
Autor
Jahr
2005
Seiten
121
Katalognummer
V186093
ISBN (eBook)
9783869439242
ISBN (Buch)
9783867468565
Dateigröße
1048 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kanu-wildwasserfahren, kursangebot, rahmen, sekundarstufe
Arbeit zitieren
Tobias Keller (Autor:in), 2005, Kanu-Wildwasserfahren als Kursangebot im Rahmen der gymnasialen Sekundarstufe II, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/186093

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