Gewalt und Ethnizität: Materialistische und kulturalistische Sichtweisen


Seminararbeit, 2005

41 Seiten, Note: 1


Leseprobe


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Einleitung

Der Begriff „Ethnos“ bezeichnete in der Antike Stammesstaaten, die nicht zur Kategorie der Polis gehörten. „Ethnos“ zeigte somit lange Zeit eine im Allgemeinen niedrigere Zivilisationsstufe an und taucht erst im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Selbstbeschreibung der eigenen Gruppe auf. Damit wird er zu einem allgemeinen Begriff für Wir-Gruppen 1 . Seit Beginn der 60er Jahre fand der Begriff Erwähnung in den englischsprachigen Wörterbüchern. Zuerst beschrieb er nur Phänomene in der Dritten Welt, wurde bald jedoch auch auf die separatistischen und nationalistischen Bewegungen der industrialisierten Länder in Westeuropa und Nordamerika angewendet und nach der Auflösung des Ostblocks auch auf politische Kräfte in Osteuropa und der ehemaligen UdSSR.

Nach der Phase der Dekolonisation gab es eine kurze Phase des Optimismus zwischen 1950-1960, die dann mit dem massiven Ausbruch ethnischer Feindseligkeiten in den 60er Jahren ein jähes Ende fand. Stanley Tambiah konstatiert, dass sich die politischen Hoffnungen, die sich mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Bildung unabhängiger Nationalstaaten in der Dritten Welt einstellten, nicht erfüllt haben. Der Entwicklungsoptimismus in der Soziologie der 50er und 60er Jahre glaubte an eine stufenweise Modernisierung bei schrittweiser Rückbildung und schließlich völligem Verschwinden der primordialen Loyalitäten. Statt dessen gewann der Begriff der Ethnizität seit den 60er Jahren immer stärkere Bedeutung im populären und wissenschaftlichen Diskurs, und verdrängte in vielen Fällen die bisherigen Erklärungsmuster von sozialer Klasse, Kaste, Rasse und Geschlechterungleichheit.

Allein in Afrika ließen sich 1995 74 Konflikte zählen, die man der Kategorie der ethnischen Konflikte zuordnen konnte. Von den 45 Millionen Flüchtlingen zu diesem Zeitpunkt stammten 65% aus 60 ethnischen Krisengebieten. 233 Gruppen hatten ihren Wunsch nach Unabhängigkeit formuliert. An 81 der weltweit schwelenden ethnischen Konflikte waren ethnonationalistischen Gruppen mit separatistischen Zielen beteiligt. Bei 45 ging es um die Forderung nach mehr sozioökonomischer Gerechtigkeit für die eigene ethnische Gruppe. 83 verschiedene Völker beanspruchten innerhalb des jeweiligen Staates Autonomie. 49 wurden durch religiöse Sekten bestritten. 66 ethnonationalistischen Gruppen ging es um eine Vergrößerung der kommunalen Macht 2 . Die Grenzen der meisten Entwicklungsländer entsprechen den willkürlichen Grenzziehungen der europäischen Kolonialherren. Die Territorien von ethnischen Gruppen wurden auseinander gerissen. Man rechnet daher in Zukunft mit weiteren Abspaltungen ethnisch

1 Lentz, S. 14.

2 Maninger, S. 1.

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homogener Staaten von multiethnischen Staaten wie im Fall der Trennung von Eritrea von Äthiopien 3 .

Die konkreten Auslöser der Auseinandersetzungen waren inner- und zwischenstaatliche Migration, Sprachprobleme, Veränderung des demographischen Gleichgewichts und damit einhergehend Konflikte zwischen Indigenen und Fremden. Den größeren Rahmen für die Herausbildung dieses augenscheinlich neuartigen Konflikttypes gab die so genannte Globalisierung ab, mit der die Privatisierung des Krieges und partielle Entstaatlichung verbunden sind. Der Historiker Thimothy Garton Ash äußerte die Vermutung, „dass ein heutiger europäischer Staat mit einer ethnischen Mehrheit von weniger als 80 Prozent im Grunde instabil ist.“ 4 Die Brisanz dieser These nicht nur für Europa sondern gerade auch mit Sicht auf den außereuropäischen Kontext, in dem die Multiethnizität die Regel und nicht die Ausnahme darstellt, ist offensichtlich. Ein Grund mehr, sich erst einmal die Frage vorzulegen, was genau unter Ethnizität zu verstehen ist. Ziel dieser Arbeit ist es nicht, eine bestimmte theoretische Richtung zu belegen oder zu verwerfen. Vielmehr sollen sowohl die argumentativen Stärken, als auch die Schwächen bestimmter Ansätze herausgearbeitet und ihre Plausibilität anhand verschiedener ethnographischer Beispiele diskutiert werden. Es soll versucht werden, jene Kernaussagen festzustellen, die als einigermaßen gesichertes Wissen gelten können, da sich - der unterschiedlichen Terminologien zum Trotz - im Grunde ein gewisser Konsens der wissenschaftlichen Schulen nachweisen lässt. Die Abhandlung behandelt durchgehend den Antagonismus „materialistischer“ und „idealistischer“ Ansätze, der sich auf allen Argumentationsebenen nachweisen lässt. Im ersten Kapitel in der Form Formalismus versus Primordialismus, im zweiten Kapitel in Bezug auf kollektive Gewalt als kulturökologischer versus kulturell-kognitiver Ansatz und im dritten Abschnitt als rational-strategische versus emotionaldynamische Erklärungsmuster.

Es soll versucht werden, Alternativen zu diesen starren Diskurslinien aufzuzeigen und Syntheseleistungen hervorzuheben. Es wird die Grundthese vertreten, dass die theoretischen Grundströmungen weniger als antagonistische, und vielmehr als komplementäre Interpretationsmöglichkeiten aufzufassen sind, die sich gegenseitig nicht ausschließen, sondern zu einem multifaktionalen Ansatz zusammengeführt werden müssen, um der Komplexität der Ursachen und Formen ethnischer Gewalt gerecht zu werden.

3 Maninger, S. 6 f.

4 Ash, S. 404.

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I. Theorien zur Ethnizität

I.1. Essentialismus oder Formalismus?

Gemeinhin werden in den Darstellung der Ethnizitätsdebatte jeweils zwei Schulen, die einen fundamentalen wissenschaftlichen Antagonismus darstellten, beschrieben. Gegenübergestellt werden Formalismus/Konstruktivismus-Essentialismus bzw. Modernismus-Primordialismus. Formalistische bzw. modernistische Ansätze betrachten Ethnizität im Wesentlichen als soziales Konstrukt, dessen Form und Abgrenzung relativ willkürlichen Bedingungen unterworfen und dessen historisches Auftreten erst in der Moderne, eigentlich erst im 19. Und 20 Jahrhundert, anzusiedeln ist. Im außereuropäischen Kontext wird der Einfluss der Kolonialmächte betont, wodurch deutlich wird, dass die Formalisten-Modernisten das Phänomen als post- und nicht prämodern begreifen. Besonders hervorgehoben wird die Rolle der „indirect rule“ bei der Schaffung, Konstruktion künstlicher Identitäten 5 . Aus diesem Grund lässt sich diese Denkrichtung auch als „Modernismus“ bezeichnen. Ethnizität könne als instrumentalistisch, situationsbezogen, nicht feststehend und gebunden an spezifische Konstellationen beschrieben werden. Im einzelnen gehen diese Theorien, wie schon die unterschiedliche Oberbegrifflichkeit (konstruktivistisch, formalistisch, instrumentalistisch, modernistisch, situationistisch) zeigt, weit auseinander. Die Essentialisten betonen hingegen die gegebenen Gemeinsamkeiten wie Sprache, Kultur, Geschichte und Abstammung, eben relativ eindeutig umrissene Kriterien zur Definition von Ethnie und Nation. Lentz nennt die Autoren wie Smith, Van den Berghe, und Isaacs als klassische Vertreter dieser Richtung. Der Historiker Antony Smith behauptet eine Kontinuität von der vormodernen Ethnizität zur modernen Nationen. Auch antike Assyrer und mittelalterliche Normannen lassen sich demnach als Ethnie im modernen Sinne definieren.

Der Politikwissenschaftler und Soziologe Pierre Van den Berghe vertritt eine soziobiologische Konzeption. Rasse und Ethnizität sind aus seiner Sicht als „expansions of kinship“ zu verstehen. Isaacs geht von einer Basisgruppenidentität aus, die man mit der Geburt erwirbt. In diesem Zusammenhang ist nach Lentz auch Cliffort Geerz zu nennen. Ich halte diese Dichotomie zwischen Formalismus/Modernismus und

(Neo)Primordialismus/Essentialismus, die unterschwellig mit einem politischen Antagonismus gleichgesetzt wird 6 , für unnötig artifiziell, da die Vielfalt theoretischer Strömungen in ihnen nicht repräsentiert wird. Denn auch Smith betont z. B. die Konstruiertheit und Künstlichkeit ethnischer Identität. Er sieht jedoch keinen Grund, warum altorientalische Assyrer oder die mittelalterliche

5 Lentz, S. 15 ff.

6 Lenz wirf z.B. Smith vor, mit seiner Position ethnonationalistische Bewegungen zu legitimieren.

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Normannen auf ähnlichen Prinzipien beruht haben sollten. So bezeichnet sich Smith selbst auch nicht als Primordialisten oder Essentialisten sondern als Perenialisten, womit er unterstreicht, dass für ihn die historische Dauer des Phänomens kennzeichnend ist. Auf der anderen Seite finden sich bei einem Protagonisten der Soziobiologie wie Van den Berghe - wie er selbst einräumtweitgehende Übereinstimmungen mit ökonomischen Ansätzen. Umgekehrt macht der ökonomische Ansatz nur Sinn, wenn man von universalen ökonomischen Bedürfnissen und Kosten- Nutzen-Kalkülen ausgeht, was wiederum eine unterschwellige Theorie über die Natur des Menschen impliziert.

Der Antagonismus von Essentialisten und Formalisten mag sich für wissenschaftliche Grabenkämpfe eignen, sie entspricht jedoch nicht der Komplexität der Argumentationsansätze. Es wird dadurch eine theoretische aber empirische Eindeutigkeit suggeriert, die ich für nicht gegeben halte. Da sich letztlich alle modernen Autoren auf Frederic Barth berufen, scheinen die Unterscheide eigentlich eher gradueller und weniger grundsätzlicher Art zu sein. Die historische Einordnung des Phänomens ist eine empirische Frage, deren Antwort in vielen Regionen schon aufgrund der Quellenlage offen bleiben muss und in Europa bis heute kontrovers bleibt und nicht eindeutig geklärt ist 7 . Die Spannbreite der Ansätze reicht also von der Annahme, dass die Ethnizität so alt ist wie die Menschheit selbst (aus der Sicht einiger Biologen sogar noch älter 8 ) und Modernisten, die Nationalismus und Ethnizität als Ergebnis von Kolonialismus und Globalisierung deuten. Zwischen diesen zwei extremen Polen sind eine Vielzahl von Annahmen und Theorien anzusiedeln, die die historische Genese sehr unterschiedlich erklären. Betrachtet man die Frage nach der Konstruierbarkeit kollektiver Identität, ergibt sich ein ganz ähnliches Bild. Auch hier sind die wissenschaftlichen Differenzen eher gradueller Natur. Ist die Konstruktion einer bestimmten ethnischen Identität Folge einer individuellen ad hoc Entscheidung oder Ergebnis eine mehrere Generationen, sogar Jahrhunderte umfassenden Prozesses.

Lässt man sich auf diese Argumentation ein scheint es angemessener, eine pragmatischere Einteilung verschiedener Positionen vorzunehmen. Dabei muss jedoch weiterhin im Blickfeld bleiben, dass es sich nur um Arbeitsbegriffe und nicht unbedingt um feststehende Lehrgebäude handelt. Insgesamt sollte eher die Komplementarität als die Gegensätzlichkeit der verschiedenen Forschungsansätze betont werden. Somit erscheint es mir angemessener zwischen einem biologisch-psychologistischen, einem ökonomisch-instrumentalistischen und einem-kulturellstrukturalistischen Ansatz zu unterscheiden.

7 Vergl. zum Thema Nationalismus und Ethnizität im europäischen Mittelalter: Robert Bartlett, Die Geburt Europas

aus dem Geiste der Gewalt. Eroberung, Kolonisierung und kultureller Wandel von 950 bis 1350, S. 367-413.

8 Vergl. Zum Thema Gruppengewalt: Andreas Paul, Von Affen und Menschen. Verhaltensbiologie der Primaten,

Darmstadt 1998, S. 68.

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I.1.a biologisch-psychologistischer Ansatz

Der biologisch-psychologische Ansatz ist mit Sicherheit jener, der in den Sozialwissenschaften sowohl aus wissenschaftlichen Gründen als auch aus Bedenken gegenüber den politischen Implikationen am umstrittensten geblieben ist. Diese Vorbehalte bestehen in Hinblick auf soziobiologische Erklärungsmodelle Allgemein als auch in Bezug auf die Erklärungsmodelle zur Ethnizität im Besonderen. Das mag vor allem in

Die Vertreter der Soziobiologie bzw. Evolutionspsychologie sehen in Verwandtschaftsaltruismus und Kooperationsnotwendigkeit die evolutionäre Ursache von ethnozentrischen Verhaltenstendenzen.

So schreibt Dawkins„...Vermutlich lassen sich Rassenvorurteile als eine irrationale Verallgemeinerung einer Tendenz der Familienselektion interpretieren, die dahingeht, sich mit physisch ähnlichen Individuen zu identifizieren und sich anders aussehenden Individuen gegenüber feindselig zu verhalten...“ 9 Wilson, der Erfinder des Begriffes Soziobiologie, erklärt, dass ethnozentrische Verhaltensweisen sich in der Evolution durchsetzen konnten:, „...Weil Vertrautheit und ein gemeinsames Interesse unterläßliche Grundbedingungen für soziale Transaktion sind,...“ deshalb „....entwickelte sich ein selektives Moralempfinden....“ 10 In den Sozialwissenschaften ist die Verbindung von soziobiologischer Theorie und empirischer Forschung zu Rassismus und Ethnizität vor allem mit dem Namen Pierre Van den Berghe verbunden, der beide Prinzipien zur Interpretation seiner lebenslangen Forschung zu Rassismus und Ethnizität verwendet. Van den Berghe, der sich selbst als nicht marxistischen Sozialisten einstuft, und in den verschiedensten Teilen der Welt mit ethnischen Gegensätzen und rassisch definierten Grenzen befasste, übernahm die Konzepte des genetischen Altruismus und der Reziprozität zur Erklärung der universalen Verbreitung ethnischer Spannungen.

Lineages und Klans stellen nach Van den Berghe das Grundmodell der Ethnizität dar; sie sind „primordiale“ Ethnien. Die Ethnie ist die Erweiterung dieses verwandtschaftlichen Prinzips: „Such was the evolutionary origin of ethnicity: an extended kin group. „With the progressive growth in the size of human societies, the boundaries of the ethnie became wider;..“ 11 Ab einer bestimmten Grösse werde das Verwandtschaftsverhältnis fiktiv und manipulierbar, dennoch prägt sie den Charakter ethnischer und nationaler Selbstbeschreibung, was sich in genealogischen Entwürfen vieler ethnischer und nationaler Abstammungsideologien wiederspiegelt.

9 Dawkins, S. 172

10 Wilson, S. 337.

11 Van den Berghe, S. 35.

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I.1.b Ökonomisch-instrumentalistischer Ansatz

Lenz hält diese „essentialistischen“ Ansätze im Prinzip für widerlegt, ihre andauernde Stärke innerhalb des Diskurses führt sie auf die Defizite der konstruktivistischen Ansätze zurück. Diesen Ansätzen fällt es z. B. schwer zu erklären, warum Menschen bereit sind für konstruierte Identitäten zu sterben. Sie selbst versucht anhand der Forschungsergebnisse der „Konstruktivisten“ einen Ansatz zu finden, der diese Kritik berücksichtigt.

Sie kritisiert die Dramatisierung der ethnischen Gegensätze. Zu dieser Dramatisierung hätten Ethnologen wesentlich beigetragen, indem sie Stämme als analytische Einheiten isoliert hätten. Statt dessen habe eine überregionale Einbettung und eine Einbindung in komplizierte Netzwerke, die nicht mit Ethnizität gleichgesetzt werden könnten, schon vor der Kolonialisierung in Afrika bestanden. Afrika sei mit nichten ein Kontinent der Stämme gewesen, sondern erst die Kolonialherren hätten die Stämme als Instrument der Herrschaftssicherung geschaffen. . „...Aber weit verbreitete Konzepte wie Lineage und Clan sind sozial produzierte Gruppenideologien, die Ethnizität sehr ähnlich und wahrscheinlich rezenter sind, als Ethnologen oft angenommen haben...“ 12 In dieser Annahme spiegelt sich wieder, dass sich die These des britischen Historikers Habsbawm von der „invention of tradition“ auf die Interpretation der Ethnizitätsproblematik übertragen wird.

Die Stabilisierung der Ungleichheit, die Kooperation mit der Kolonialmacht, die Stärkung der einheimischen Eliten und die Verfestigung ethnischer Identität durch alltägliche Praxis, seien die vier herausragenden Merkmale dieser Politik. Sie räumt ein, dass es schon vor der Kolonisierung Ethnisierungstendenzen gegeben haben könnte, diese seien jedoch aufgrund der Quellenlage nicht mehr zu fassen.

Somit existiere ein Zusammenhang zwischen nationaler Politisierung und ethnischer Politisierung. Zentrale Ursache sei die Konkurrenz um knappe Ressourcen. Dass die Konkurrenz auf der Ebene der Ethnizität und nicht etwa als Klassenkonflikt ausgetragen werde, wird durch die verwandtschaftlichen Klientelbeziehungen erklärt. Eliten würden ethnische Identitäten erzeugen, um sich ein Unterstützernetzwerk zu schaffen. Umgekehrt verhinderten die Klientel und Verwandtschaftsnetzwerke die Entstehung einer durch Klassenzugehörigkeit definierten multiethnischen Elite.

Der Grund für das Fortbestehen eines ethnischen Wir-Gefühls könne sich verändern und sich vom Grund ihrer Entstehung erheblich unterscheiden. Daher seinen ethnische Identitäten auch immer historisch und regional spezifisch. Deshalb wird von einigen Autoren auch der Standpunkt vertreten, dass Ethnizität niemals abstrakt definiert werden sondern nur im Kontext erschlossen

12 Lenz, S. 20.

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werden kann. Lenz zieht das Fazit, dass Ethnizität vielschichtig mehrdeutig und veränderbar sei. Ihre emotionale Kraft folgt aus der Übertragung von Gefühlen gegenüber Heim und Familie auf größere Einheiten. Trotz dieses Zugeständnisses an einen emotionalen Faktor, mit dem wohl die Eingangs kurz angesprochenen Defizite der Theorie behoben werden sollen, bleibt aus dieser Sichtweise die Modernität und Funktionalität ethnischer Identität bestimmend zur Erklärung dieses Phänomens.

Ethnische Identität ist aus diesem Blickwinkel, als Begleiterscheinung der Modernisierung und nationalen Integration zu verstehen. Insoweit ist die Ausbreitung von Nationalismus und Ethnizität als politische Organisationsprinzipien als Folge und Begleiterscheinung der Globalisierung zu sehen und nicht als ein überlagerter Artefakt. Einen solchen direkten Zusammenhang zwischen Ethnizität und Globalisierung sieht auch Elwert. Die Ausbildung einer internationalen Infrastruktur, die ungebremste Ausbreitung der Warenströme und das damit verbundene Vordringen marktwirtschaftlicher Prinzipien setzten die regionalen Kulturen einem massiven Druck aus. Die Folge sei ein Verlust von Sicherheit in jeder Hinsicht gewesen. Ausbreitung allgemeiner Käuflichkeit, Korruption und Rechtsunsicherheit waren die Folge. Die Instabilität des globalen Systems macht jeden Einzelnen potentiell zum Spielball des internationalen Marktgeschehens, für das selbst eine extreme Krisenhaftigkeit charakteristisch ist. Damit erhöht sich die Bereitschaft nach neuen Formen politischer Vergemeinschaftung zu suchen, die moralische und rechtliche Stabilität versprechen. Nationalismus und ethnische Zugehörigkeit entsprechen einem solchen vertikalen Gemeinschaftsprinzip, dass sich schließlich als Form der „Substrukturierung“ der Globalisierung durchsetzt 13 .

Dieser Standpunkt kommt deshalb besondere Beachtung zu, da die Annahme die weltweiten durch den globalen Markt bedingten Modernisierungstendenzen würden langfristig die „primordialen Bindungen“ zurückdrängen, hinfällig wird, wenn man diese Prozesse selbst als Ursache dieser Bindungen sieht. Dem entsprechend wäre das Phänomen der Ethnizität historisch Parallel zur Ausbreitung der Weltgesellschaft seit dem 18. Jahrhundert einzuordnen. Ethnizität und Nationalismus sind lediglich durch den Bezug zu einem vorhandenen Nationalstaat zu unterscheiden.

13 Elwert, S. 36 ff.

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I.1.c Kulturell-strukturalistischer Ansatz

Ethnizität ist nach Smith das allgemeinere, universalere Phänomen, aus dem der moderne Nationalismus hervorgegangen ist. Ethnische Identität wäre also doch, im Gegensatz zur zuvor skizzierten Annahme, die historisch „frühere“ Variante.

Müller hat sich bemüht universale und historisch übergreifende Grundstrukturen der Identität im allgemeinen und ihrer Einbettung in ethnozentrische Weltbilder zu skizzieren. Die Bildung einer Gruppe, die zeitliche und räumliche Konstanz besitzt, führe zur Entstehung eines Systems mit seinen Subsystemen. Diese Systeme gliedern sich in einem universellen Schema in Zentrum, Umfeld und Peripherie. 14 . Das Zentrum bildet jenes Feld, in denen sich die Perspektiven der Gruppenangehörigen überschneiden. Es ist das Areal in dem sich die Blicke kreuzen und das im Fokus der Gemeinschaft steht. Dieses Zentrum ist der Bereich der äußersten Verdichtung; in seiner Nähe erreicht der einzelne das Maximum des Erlebens der eigenen Identität, in ihm konzentriert sich Kommunikation, Information und Wissen. Dieses Zentrum ist sowohl territorial wie soziologisch bestimmt. Territorial ist es jener Ort, an dem Beschlüsse gefaßt oder Kultfeiern und Feste zelebriert werden. Heiligtümer und Versammlungsplätze zählen dazu, soziologisch ist es bestimmt, durch die führende Gruppe, durch die bedeutendste Familie, Klan oder Person. In den meisten Fällen besteht eine räumliche Nähe zwischen dem lokalen und dem personalen Zentrum der Gemeinschaft. So postuliert Müller: „Die Zentralgrößen stellen für eine jede Gesellschaft Güter von höchstem Wert dar“ 15 .

Das Umfeld präsentiert den eigentlichen Lebensbereich der Menschen. Zwischen diesen zwei Größen besteht eine kontinuierliche Wechselwirkung. Das Umfeld selbst ist entsprechend den Anforderungen des Alltags strukturiert 16 . Die Einheit der Gemeinschaft wird durch die enge Exogamie und die weite Ethnosendogamie erhalten, die die verwandtschaftliche Einheit, die die fiktive biologische und konkret soziale Basis der Gruppe bildet. Je weiter man sich durch das Umfeld von dem Zentrum entfernt, umso näher kommt man dem Bereich der Exosphäre, außerhalb des die Gemeinschaft umschließenden endosphärischen Bereichs. In vielen Sprachen wird das Wort für Fremder daher bedeutungsgleich mit dem Wort für Feind verwendet, da der Fremde sinnbildlich für den den eigenen Ethnos bedrohenden exosphärischen Raum steht 17 . Die Stabilität der kulturellen Ordnung hängt von ihrer Legitimität in der Vorstellungswelt ihrer Mitglieder ab. Das aufs kosmische Ganze gerichtete Weltbild erfüllt die Funktion das Bestehende zu legitimieren und die Überlieferung zu rationalisieren. Mythen transzendieren also den

14 Müller, S. 85.

15 Ders., S. 122-126.

16 Ders., S. 126 ff.

17 Ders. , S. 87- 95.

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Existenzanspruch einer Gemeinschaft und die Legitimität der gesellschaftlichen Gliederung. Wenigstens jene Mythen die sich auf Abstammung beziehen sind ethnozentrisch, da sie selbst das ethnozentrische Weltbild konstituieren. Die Ursache der kulturellen Ordnung ist zugleich ihre Begründung; Da diese selbst dem legitimiertem Zustand vorausgegangen sein muss, gewinnt die eigene in der Gegenwart existierende Gruppe eine zeitliche Tiefendimension. Die synchrone Ordnung der Gemeinschaft mit ihrer Gliederung in Zentrum, Umfeld und Peripherie wird in der Vorstellungswelt in eine diachrone Ordnung eingebettet. Da die Kausalität als Verhältnis von bestehender Ordnung, die als Wirkung vorhergehender Ereignisse aufgefasst wird, zu seiner Ursache immer weiter in die Vergangenheit zurückweist, stellt sich schließlich die Frage nach der ersten Ursache. Diese muss den ersten Grund für die Besonderheit der eigenen Gemeinschaft und das Dasein insgesamt darstellen, so dass bei vielen Kulturen der Ursprungsmythos des eigenen Volkes mit dem Schöpfungsmysthos zusammenfällt 18 . Die Seinsmodi der Kausalität und der Zeitlichkeit, verbunden mit dem Legitimitätsanspruch der eigenen Identität sind also die Voraussetzungen des Mythos. Da der Abstammungsmythos den entscheidenden identitätsstiftenden Bezugspunkt darstellt, tritt die jüngere Vergangenheit gegenüber der Anfangszeit in Erinnerung und Bedeutung zurück 19 .

Der Mythos beschreibt die „geradlinig-ungebrochene Kontinuität ihrer Deszendenz über eine maximale Zeitspanne hin.“ 20 Obwohl die Zukunft im Gegensatz zur unumkehrbaren Vergangenheit, oft als bedrohlich verstanden wird, gehört auch sie im ethnozentrischen Weltbild dem eigenen Volk, das aufgrund der Annahme das älteste der existierenden Völker zu sein, auch den Anspruch formulieren kann, an der Spitze der kulturellen Entwicklung zu stehen 21 . Klaus Müller betont die Notwendigkeit der Kooperation und ihre normenbildende Kraft. Die Klammer einer Gesellschaft sei ein Identitätsbewußtsein, das die Interessengegensätze, wie sie in einer Gemeinschaft zwangsläufig auftauchen, zu überwinden hilft. Durch die Zunahme der Integration durch Identität wird der bereits beschriebene Effekt ausgelöst, dass die Abgrenzung gegenüber der Umwelt der Gemeinschaft verstärkt wird. „Menschen können nur in Gruppen überleben und Gruppen bedürfen um voll funktionsfähig zu sein, einer möglichst intakten und stabilen Identität“ 22 .

18 Ders., S. 142, f.

19 Ders., S. 61.

20 Ders., S. 116.

21 Ders., S. 144-149.

22 Ders, S. 391.

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I.2. Die Ethnie als „Familie“

In einem Punkt scheinen sich alle Richtungen der Ethnizitätstheorie einig zu sein, nämlich in der Annahme, dass eine ideologische Parallelität zwischen Familienvorstellungen und ethnischem Bewusstsein besteht. „To view ethnicity as a form of greatly extended kinship is to recognize, as ethnic groups do, the role of putative descent. There are fictive elements here, but the idea, if not always the fact, of common ancestry makes it possible for ethnic groups to think in terms of family rsemblances (...) and do bring into play for a much wider circle those concepts of mutual obligation and antipathy to outsiders that are applicable to family relations.“ 23 Bei Van den Berghe erfährt diese These eine Überhöhung durch den Rückgriff auf ein soziobiologisches Theoriefundament, bei Müller erkannten wir Ethnizität als strukturelle Erweiterung des sozialen Rahmens, den die Verwandtschaft umfasst. Aber auch bei ausgesprochenen Anti-Primordialisten finden wir diese Annahme. „Ihre emotionale Wirkungsmacht (nämlich die der Ethnizität. Anm. des Verf.) beruht darauf, dass die emotionale Kraft von Verwandtschaft und „home“ auf größere Gemeinschaften übertragen wird,....“ 24 Auch der historische Soziologe Michael Mann, der die primordialen Strömungen ablehnt, bezieht sich Explizit auf die Ähnlichkeit von Familie und Nation: „Als primärer Ort der Sozialisation, (...) war die Familie der wichtigste Träger und Vermittler moralischer Prinzipien und Emotionen. Indem der Nationalismus, wo immer er auftrat, seinerseits zumindest fiktive Familien produzierte, erzeugte er, wenn auch ein falsches Bild von der Nation als einer Abstammungsgemeinschaft, die Nation wurde zu unserer symbolischen Mutter und unserem symbolischen Vater.“ 25 Dasselbe trifft natürlich auch auf den Ethnonationalismus und die Ethnizität insgesamt zu. Insoweit wäre es interessant zu untersuchen, ob die Ethnizitätstheorien nicht schlichtweg direkt von allgemeineren Theorien zu Verwandtschaft und sozialer Organisation abgeleitet sind. Wer von Verwandtschaft und „Familie“ als sozialem Konstrukt ausgeht, wird erst recht dazu neigen, Ethnizität nur als eine erweiterte Form dieses Konstrukts zu sehen. Wer hingegen wie Van den Berghe ein universelles Verwandtschaftssystem sieht, dass letztendlich biologisch determiniert ist, wird diesen Zusammenhang auch zur Ethnizität nicht ausschließen. Wer eine strukturalistische Vorstellung von Verwandtschaftsbeziehungen favorisiert, wird eine ähnliche Interpretation wohl auch auf den Bereich der ethnischen Identität anwenden. Wer in Verwandtschaftsverhältnissen nur eine Folge ökologischer und ökonomischer Umwelten sieht, leitet aller Wahrscheinlichkeit nach, auch das Phänomen der Ethnizität von ökonomischen Gegebenheiten ab. Wir erkennen also auch hier wieder die Einbettung der Ethnizitätstheoreme in allgemeine theoretische Strömungen in der Ethnologie.

23 Horowitz, S. 57.

24 Lentz, S. 25.

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Gewalt und Ethnizität: Materialistische und kulturalistische Sichtweisen
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1
Autor
Jahr
2005
Seiten
41
Katalognummer
V186225
ISBN (eBook)
9783869438429
ISBN (Buch)
9783656992875
Dateigröße
832 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gewalt, ethnizität, materialistische, sichtweisen
Arbeit zitieren
Gérard Bökenkamp (Autor:in), 2005, Gewalt und Ethnizität: Materialistische und kulturalistische Sichtweisen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/186225

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