Diagnose ADHS - Betroffene Kinder und der Umgang mit ihnen im Kontext der Familie


Diplomarbeit, 2008

90 Seiten, Note: 1.3


Leseprobe


0. Einleitung

„Der 8-jährige Felix besucht die zweite Grundschulklasse und fragt sich, warum das ganze Leben so „blöd“ ist und ob es nicht viel besser wäre, niemals geboren worden zu sein. In der Familie sei alles nur „blöd“. Der jüngere Bruder werde mehr geliebt und dürfe alles, er dagegen dürfe nichts. Die Mama habe ihn eh nicht lieb, und der Papa habe nie Zeit für ihn. Am liebsten ginge er auch nicht in die Schule, weil dort alle nur gegen ihn seien. Er werde ungerechterweise von den Lehrerinnen immer beschuldigt, an allem schuld zu sein. Und ständig werde er von anderen Kindern so provoziert, dass er nur noch wie wild um sich schlage. Er wisse gar nicht, was mit ihm los sei. Die Lehrerinnen sehen Felix als Klassenkasper, der sich ständig in den Vordergrund spielen muss. Besonders montags sei er kaum zu bremsen und störe massiv den Unterricht durch Zwischenrufe und Umherlaufen. Auf Grund seiner niedrigen Frustrationsgrenze sei der Junge ständig in Streitereien und Schlägereien verwickelt. Seine Leistungen seien schwankend und tagesformabhängig. Erstaunlicherweise sei der Junge in der Zweiersituation wie verwandelt und sehr zugänglich. Die Lehrerinnen sind der Auffassung, dass die Eltern ihren Sohn nicht richtig erzögen. Felix müsse einfach lernen, motivierter und ehrgeiziger zu sein. Vor allem die Mutter ist verzweifelt. Sie hat das Gefühl, dass ihr der ältere Sohn entgleitet und auf Grund der zahlreichen Klagen aus der Schule befürchtet sie ein massives Schulversagen. Von der Schule habe Felix eine sehr schlechte Meinung, alle Lehrerinnen seien „doof“ und ungerecht. Keine verstehe ihn. Oft müsse er Strafarbeiten erledigen, die seinen Hass auf die Schule noch verstärkten. Zudem attackiere Felix ständig seinen kleineren Bruder. Seine Unruhe und Zerstreutheit habe er kaum unter Kontrolle, und er fühle sich bereits durch die kleinste Kritik grundsätzlich in Frage gestellt. Seine Essmanieren ließen sehr zu wünschen übrig und es falle immer etwas auf den Boden. Von ihrem Mann fühlt sich Felix’ Mutter nicht sehr verstanden und unterstützt. Er vertritt die Auffassung, dass Felix ein wilder Junge sei, der sich ‚die Hörner noch abstoße’.“ (http://www.adhs.ch/download/docs/schule/ adhs_lehrer.pdf; 01.04.2008)

Dieses Fallbeispiel beschreibt geradezu musterhaft die Schwierigkeiten, mit denen aufmerksamkeitsgestörte, hyperaktive Kinder und deren Eltern im täglichen Leben zu kämpfen haben. Dabei klagen heute immer mehr Eltern, Lehrer und Erzieher über sogenannte „Problemkinder“. Diese Kinder fallen vor allem durch extreme innere Unruhe, schnelle Ablenkbarkeit und impulsives Verhalten auf. Nicht selten wird bei ihnen nach einer genauen Untersuchung das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts- Syndrom (ADHS) diagnostiziert. Trotz wachsender Aufklärung durch die Medien wird das Syndrom immer noch von vielen Eltern und Pädagogen nicht erkannt oder als „Modekrankheit“ abgetan. Dabei sind sehr viele Eltern, aber auch Lehrer, mit diesen Kindern stark überfordert und wissen meist nicht, wie sie auf ihre Verhaltensaufälligkeiten reagieren sollen. In dieser Arbeit sollen die Schwierigkeiten beschrieben werden, die im Zusammenhang mit der Entwicklung und der Erziehung eines ADHS-Kindes auftreten und praktikable Anregungen für den Umgang mit diesen Kindern vorgestellt werden. Dabei soll vor allem das Kind im Kontext der Familie betrachtet und die Hindernisse des Alltags genauer beleuchtet werden.

In meiner praktischen Tätigkeit in unterschiedlichen Einrichtungen der Jugendhilfe bin ich immer wieder mit betroffenen Kindern und deren Familien in Kontakt gekommen. Dabei begegneten mir oft Eltern, die ihrer Aufgabe als Erziehende nicht mehr gerecht werden konnten und unter der enormen Belastung, die die Erziehung eines Kindes mit ADHS mit sich brachte zusammenbrachen. Doch nicht nur die Eltern waren die Leidtragenden, die betroffenen Kinder waren ebenso einem enormen Leidensdruck ausgesetzt und standen scheinbar ständig „unter Strom“. Die jüngste Erfahrung mit einem außerordentlich hyperaktiven Jungen, den ich während meines ersten Praxissemesters in einer Tagesgruppe kennen gelernt habe, hat mich letztendlich dazu bewogen, mich mit der Thematik ADHS näher zu beschäftigen. Bei dem Zehnjährigen kam es regelmäßig zu heftigsten Wutausbrüchen, wobei er sich selbst und andere Beteiligte gefährdete.

In dieser Arbeit soll eine Antwort auf die unterschiedlichsten Fragen zum Thema ADHS und Familie gefunden werden. Zum Einen soll geklärt werden was ADHS überhaupt ist und welche Ursachen es hat. Dabei soll erörtert werden unter welchen Problemen betroffene Kinder zu leiden haben und wie die Umwelt die Symptome wahrnimmt. Zum Anderen sollen Probleme aufgezeigt werden, die im alltäglichen Umgang mit diesen Kindern entstehen. In diesem Zusammenhang soll geklärt werden, wie sich das problematische Verhalten eines Kindes auf die Beziehungen und Interaktionen in der Familie auswirkt und wie stark die psychische Belastung der Eltern ist. Zudem sollen weit verbreitete Unwahrheiten und Legenden über ADHS, die eine Stigmatisierung und Etikettierungen der betroffenen Kinder und seiner Eltern mit sich ziehen, aufgedeckt und richtig gestellt werden. Während im ersten Teil der Arbeit der Fokus auf der Beschreibung der Problematik und den Therapiemöglichkeiten für die betroffenen Kinder liegen soll, sollen im zweiten Teil individuelle Strategien und Methoden zum Umgang mit ADHS in der Familie vorgestellt werden und sowohl private Hilfsangebote, als auch die der Jugendhilfe aufgezeigt werden.

Lesehinweis:

Aus Gründen der Übersichtlichkeit und der besseren Lesbarkeit möchte ich auf eine geschlechtsspezifische Schreibweise verzichten, sofern diese nicht beim Zitieren übernommen werden muss. Werden Personenbezeichnungen nur in der maskulinen beziehungsweise femininen Form verwendet, so ist die andere Form dabei stets mitgemeint.

In dieser Arbeit wird der Begriff „ADHS-Kind“ häufig verwendet. Dieser meint ein Kind, welches unter der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung leidet. Das Verwenden dieser in der Literatur häufig zu findenden Begrifflichkeit soll keinerlei Klassifizierung oder Stigmatisierung vornehmen, sondern lediglich zur einfacheren Lesbarkeit der Arbeit beitragen.

1. Begriffsbestimmung ADHS

1.1 Definition und Begriffsgeschichte

Die Aufmerksamkeits- Defizit-(Hyperaktivitäts-) Störung, auch als AufmerksamkeitsDefizit-(Hyperaktivitäts-) Syndrom bezeichnet, ist eine der häufigsten psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter.1 Dabei versteht man unter Syndrom die Zusammenfassung einer Vielzahl an Symptomen, sowohl Haupt- als auch Begleitsymptomatiken, zu einem Krankheitsbild. In dieser Arbeit wird ausschließlich der Begriff der Störung verwendet. Die Hyperaktivität wird bei der Bezeichnung in Klammern gesetzt, weil die Aufmerksamkeitsstörung nicht zwangsläufig in Verbindung mit unruhigem Verhalten auftritt.2 Diese Arbeit soll sich jedoch vorrangig mit der Störung einschließlich der Hyperaktivität befassen, deshalb wird hautsächlich die Bezeichnung ADHS beziehungsweise AD(H)S verwendet.

Bei der ADHS handelt es sich um ein Störungsbild, das schon seit über 150 Jahren bekannt ist. Die bekannteste ausführliche Beschreibung eines Kindes mit ADHS lieferte der Frankfurter Dr. Heinrich Hofmann bereits 1845 mit der Geschichte vom hyperaktiven und impulsiven „Zappelphilipp“ und dem verträumten „Hans-guck-in-die- Luft“. Aber auch in anderen Ländern wurde die ADS/ADHS-Störung beobachtet, wenn gleich unter anderen Bezeichnungen wie zum Beispiel „Defekte der moralischen Kontrolle“ oder „Moralisches Irresein“. So beobachtete der englische Arzt George Still bereits 1902 Symptome bei seinen Patienten, die an die ADS/ADHS-Störung erinnern. 1932 beschrieben Kramer und Pollnow die Hyperkinetische Erkrankung. Bereits 1937 gab es erste Versuche die Störung mit Medikamenten zu behandeln. In den 60er- und 70er- Jahren des vergangenen Jahrhunderts sprach man dann von der minimalen cerebralen Dysfunktion (MCD).3

Der Begriff Aufmerksamkeitsstörung geht auf eine Definition der American Psychiatric Association (APA) zurück und ersetzte im Jahre 1980 damit die älteren, teilweise noch gebräuchliche Bezeichnungen wie dem Zappelphilipp-Syndrom, Hyperkinese, Hyperaktivität beziehungsweise psycho-organisches Syndrom (POS) u.a.. Laut derzeitigen Erkenntnissen waren die typischen Schwierigkeiten der betroffenen Kinder auf verminderte Aufmerksamkeitsprozesse zurückzuführen. Anlässlich dessen kam man zu der neuen Begrifflichkeit. Auf Grund der Erkenntnis, dass nicht nur hyperaktive, das heißt unruhige, sondern auch hypoaktive, also ruhige verträumte Kinder, zum gleichen Formenkreis gehören können, unterschied die APA außerdem zwischen Aufmerksamkeitsstörungen ohne Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen mit Hyperaktivität. Bei manchen Betroffenen tritt ausschließlich eine hyperkinetische Störung, bei anderen wiederum nur eine Aufmerksamkeitsdefizit-Störung auf. Meistens bestehen jedoch Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität gemeinsam. Das Erscheinungsbild ist sehr vielgestaltig; es reicht vom bekannten Zappelphilipp über das brav-träumerische Mädchen ("Traumsuse"), depressiv orientierungslose Jugendliche bis hin zum hochbrillanten zerstreuten Professor. In der Revision des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM-III-R) wird 1987 der heute gültige Begriff der Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung eingeführt.4 Dabei bezeichnet die ADHS einen nicht nur bei Kindern auftretenden Symptomkomplex, welcher sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzen kann. Jedoch soll im Rahmen dieser Arbeit vorrangig die Problematik der kindlichen ADHS beschrieben werden.

Laut Barkley handelt es sich bei ADHS um eine Entwicklungsstörung der Selbstbeherrschung. Die Störung ist gekennzeichnet durch erhebliche Beeinträchtigungen der Konzentrations- und Daueraufmerksamkeitsfähigkeit, Störungen der Impulskontrolle sowie Hyperaktivität oder innere Unruhe. Hierbei handele es sich nicht, wie oft behauptet, um einen vorübergehenden Zustand der sich „auswächst“. Seiner Auffassung nach liegt die Ursache auch nicht darin, dass die Eltern das Kind nicht streng genug erziehen würden. Die ADHS sei ein sehr reelles Problem, eine sehr reelle Störung, die ausschließlich auf genetische Ursachen zurückzuführen ist.5 Diese Ansicht bezüglich der Ursachen von ADHS vertreten jedoch viele Autoren nicht. In den folgenden Kapiteln werden die am häufigsten in der Literatur beschriebenen möglichen Ursachen erörtert und kritisch beleuchtet.

1.2 Häufigkeit

Die Aufmerksamkeitsstörung ist nach Lauth / Schlottke die häufigste Verhaltensbeeinträchtigung im Kindesalter. Betrachtet man große Geister, so sind augenscheinlich viele von ihnen Menschen mit einem AD(H)S: Einstein, Edison, Lincoln, Mozart, Pestalozzi, Hemingway, Churchill, Kennedy, Clinton, Gates und viele andere. Man kann ebenso davon ausgehen, dass Revolutionäre, Menschen, die die Welt veränderten und die zündenden Funken unserer Gesellschaft waren, zum großen Teil vom ADHS betroffen waren.

Zur Häufigkeit der ADHS gibt es unterschiedliche Annahmen. Das Bundesministerium für Gesundheit geht davon aus, dass zwei bis zehn Prozent aller Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen an AD(H)S leiden.6 Diese Zahl deckt sich mit den aktuellen Schätzungen aus Fachkreisen, die allerdings noch nach den Kriterien verschiedener international anerkannter Klassifikationssystemen unterscheiden. Nach den Bemessungskriterien von DSM-IV sind etwa vier bis acht Prozent der untersuchten Personen betroffen, nach ICD-10 sind es ein bis drei Prozent. Nach Angaben der Kinderärzte sind in Deutschland etwa drei bis vier Prozent aller Kinder im Grundschulalter und zwei Prozent aller Jugendlichen betroffen. Nach Baumgaertel (1995) sind 17,8 Prozent der deutschen Schulkinder von einem ADS mit und ohne Hyperaktivität betroffen. Das Verhältnis zwischen betroffenen Mädchen und Jungen wird in der Literatur unstrittig mit 1:3 angegeben. Jungen leiden demnach drei- bis neunmal häufiger an der Störung als Mädchen, wogegen zehnmal mehr Mädchen als Jungen dem unauffälligen verträumten ADS-Typus angehören.7 Als Gründe hierfür gelten eine genetische Disposition, eine höhere Toleranz gegenüber auffälligem Verhalten bei Mädchen, eine stärkere Beachtung von Jungen in der Forschung.8 Bei verhaltensauffälligen Kindern und Kindern in Sonderschuleinrichtungen treten Aufmerksamkeitsstörungen weit häufiger auf. 1984 ermittelten Psychologen bei 110 Kindern einer neuropsychiatrischen Krankenstation einen Anteil von 56 Prozent als hyperkinetisch. Zudem wurde festgestellt, dass 50 Prozent bereits verhaltensauffälliger Kinder auch aufmerksamkeitsgestört sind. Ähnliches zeigen auch Zahlen über die Behandlung in Erziehungs- und Familienberatungsstellen. Hier stellt die Diagnose „Lernschwäche“ und/oder „Aufmerksamkeitsstörung“ mit 26 Prozent den häufigsten Anteil dar.9

Das Deutsche Ärzteblatt spricht in seiner Ausgabe 37 vom 10. September 2004 von 1,3 Prozent bis 4,7 Prozent Betroffenen im Erwachsenenalter. AD(H)S im Erwachsenenalter ist seit 1995 bekannt und wurde 2003 auch in Deutschland als Störung anerkannt. Bis zu 70 Prozent der im Jugendalter von AD(H)S Betroffenen behalten die Erkrankung bis ins Erwachsenenalter, wobei sich die Symptome allerdings ändern. Meistens verwandelt sich die eventuell vorhandene extrovertierte Unruhe in eine innere Rastlosigkeit.

Die genannten Häufigkeitsangaben hängen damit zusammen, wer die Beurteilung abgibt und welche Kinder beziehungsweise Jugendliche oder Erwachsenen betrachtet werden. Nach anglo-amerikanischen Beobachtungen variieren die Häufigkeiten deutlich mit den Beurteilern. Liegen beispielsweise Angaben von Lehrern zu Grunde trifft man eher auf höhere Prozentangaben. Ärzte machen dagegen Angaben, die eher im unteren Rangbereich liegen. Die zahlenmäßig höheren Angaben von Lehrern zeigen, dass die Aufmerksamkeitsstörung eine Verhaltensbeeinträchtigung ist, die vor allem im schulischen Kontext auftritt und durch die Schule definiert wird. Ein weiterer Grund für die unterschiedlichen Zahlen, die in der Literatur zu finden sind, ist die Betrachtungsweise der Autoren. Manche Autoren beschränken sich bei ihren Angaben beispielsweise auf Kinder deren AD(H)S einer medikamentösen Behandlung bedarf, während andere auch die Kinder berücksichtigen, bei denen andere Therapiemaßnahmen bereits ausreichen.10

Vermutungen, das Auftreten der Erkrankung habe in den letzten zehn bis 15 Jahren zugenommen und sei ein Zeichen unserer Zeit, sind nicht belegt. Da die ADHS eine ererbte Störung ist, kann es in den letzen Jahren und Jahrzehnten kaum zugenommen haben. Dennoch sind Kinder mit einem AD(H)S in den letzten Jahren zunehmend auffällig geworden. Die gängige Meinung ist, dass es sich um eine Modeerscheinung handele, die von zur Erziehung unfähigen Eltern und willigen Ärzten geradezu erfunden wurde. Dies ist sicherlich nicht der Fall. Vielmehr ist es in den letzten Jahren gelungen das Thema von seinem Tabu zu befreien und es öffentlich bekannt zu machen. Der ADHS wird heute also eine größere Beachtung geschenkt. Einerseits ist das auf neuere Diagnosemethoden zurückzuführen, die eine ADHS heute deutlicher von einer anderen Störung abgrenzen.

Auf der anderen Seite hat es Veränderungen in der Familienstruktur und Erziehung gegeben. In den auf ein bis zwei Kinder geschrumpften Familien wird jedem einzelnen Kind ein größerer Stellenwert eingeräumt, als dies noch in den kinderreichen Großfamilien früher der Fall war. Es werden auch größere Anforderungen an die Kinder gestellt, die sie überfordern können.11 Kinder mit einer Aufmerksamkeitsstörung sind in besonderem Maße durch Stress- und Stimulation erregbar und störbar. Da die letzten Jahrzehnte durch eine Zunahme an Stress und Hektik sowie durch höhere Ansprüche gekennzeichnet sind, treten die Symptome der Erkrankung möglicherweise deutlicher hervor und werden zudem häufiger diagnostiziert. Insbesondere lassen die großen Kindergartengruppen und Klassenstärken die ADHS-Kinder vermehrt auffällig werden, da sie durch die umgebende Unruhe besonders abgelenkt und irritiert werden. Die Unruhe in den Kindergärten und Schulen ist vermutlich auch durch die zunehmend geringere Autorität der ErzieherInnen und der LehrerInnen bedingt. Ein weiteres Argument für die Zunahme der Symptomatik ist, dass Kinder früher häufig einen langen und anstrengenden Schulweg hatten, da sie oft mehrere Kilometer mit dem Fahrrand oder zu Fuß zurücklegen mussten. Dabei bauten sie überschüssige Energien ab. Heute führen die üblichen Bustransporte mit unruhigen aggressiven Schülern zu einer Verstärkung der hyperaktiven Verhaltensweisen von Kindern mit einem ADHS. Zudem haben die Medien, die Kinder mit Reizen überfluten, aber auch von der notwendigen körperlichen Aktivität abhalten, einen verstärkenden Effekt auf deren Verhaltensauffälligkeiten. Auch der Mangel an emotionaler Zuwendung und abnehmende soziale Bindungen können zu Hyperaktivität führen.12 An dieser Stelle könnten noch weitere Argumente beziehungsweise Ursachen für die Zunahme der Diagnose ADHS aufgezeigt werden, allerdings sollen im folgenden Kapitel die Ursachen für die Entstehung der Störung näher erörtert werden.

2. Grundlegendes über ADHS und seine Behandlung

2.1 Grundsymptomatik

Die Diagnostik einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung erfordert eine genaue Kenntnis der Symptomatik. Dabei ist zwischen den Symptomen der Störung mit und ohne Hyperaktivität zu unterscheiden. Im Folgenden werden die Merkmale der Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität beschrieben. Auf diese Erkenntnis bauen die Darstellungen in den folgenden Kapiteln auf.

ADHS wird über Problemverhalten definiert, dass in der Literatur in drei Hauptsymptome unterteilt wird: Unaufmerksamkeit, motorische Unruhe und Impulsivität. Unter diesen Begriffen werden Verhaltensweisen zusammengefasst, die fast jedes Kind gelegentlich zeigt. Die ADHS definiert sich zusätzlich über die Häufigkeit, die Dauer und die Ausprägung der Symptomatik.13 Da es sich bei der ADHS um eine Störung handelt, bei der die Übergänge zwischen „normal“ und „auffällig“ fließend sind, muss der wissenschaftliche Nachweis über bestimmte Tatsachen erbracht werden, um diese als Entwicklungsstörung bezeichnen zu können. Barkley nennt acht Faktoren, welche beim betroffenen Kind nachgewiesen werden müssen, um die Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitäts-Störung diagnostizieren zu können: (1) Die Störung muss bereits im frühen Alter auftreten. (2) Sie ist dabei weitgehend situationsabhängig, das heißt in vielen verschiedenen, wenn auch nicht allen Situationen zu beobachten. (3) Es müssen klare Unterschiede zwischen Kindern, die hinsichtlich dieser Störung gesund sind und jenen, die von dieser Störung betroffen sind bestehen.

(4) Der Defekt muss die Eigenschaft haben sich auf die Fähigkeit des Kindes auszuwirken, den Anforderungen, die üblicherweise an Kinder der jeweiligen Altersstufe gestellt werden gerecht zu werden. (5) Die Symptomatik muss über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten zu beobachten sein. (6) Diese ist nicht ohne weiteres mit äußeren oder sozialen Ursachen erklärbar. (7) Die Störung muss dabei mit Abweichungen in der Entwicklung oder Funktionsweise des Gehirns in Zusammenhang stehen, so dass ein Ausfall oder eine Beeinträchtigung einer geistigen Fähigkeit vorliegt, die bei gesunden Menschen vorhanden ist. (8) Sie muss mit anderen biologischen Faktoren in Verbindung stehen, die sich negativ auf die Funktionsweise oder Entwicklung des Gehirns auswirken können.14

Tausende Studien zur ADHS liefern genügend Daten, die sicher belegen, dass die Störung alle diese Kriterien erfüllt und somit als Entwicklungsstörung klassifiziert werden kann. Wie bereits aufgeführt, wird die ADHS durch bestimmte auffällige Verhaltensweisen charakterisiert. Die Aufmerksamkeit, Konzentration und Ausdauer der betroffenen Kinder ist erheblich gestört. Dies kann sich unterschiedlich äußern. In den meisten Fällen weisen ADHS-Kinder mehrere problematische Verhaltensweisen parallel zu einander auf. Sie haben eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne und sind zudem leicht ablenkbar. Überdies ist die Konzentrationsfähigkeit dieser Kinder eingeschränkt.15 Sie haben demzufolge Schwierigkeiten sich ausdauernd einer Aufgabe zuzuwenden, sie zu beenden und sie fehlerfrei zu bearbeiten. Es kann für sie eine regelrechte Qual sein, sich zu überwinden mit einer Aufgabe zu beginnen und Dinge zu tun, die etwas länger dauern, vor allem wenn die Aufgabe langweilig und monoton zu sein scheint.

Auch zeitintensivere Arbeiten im Haushalt, das Zuhören im Unterricht oder das Lesen umfangreicherer Texte bereitet ihnen ungeheuerliche Mühe. Betroffene Kinder wenden sich schnell neuen und interessanteren Dingen zu oder sie arbeiten zu schnell und unvollständig. Dieses Verhalten ist letztendlich auch damit zu erklären, dass ADHS- Kinder große Schwierigkeiten haben irrelevante Reize auszublenden. In der Literatur wird oft beschrieben, dass diesen Kindern alles um sie herum gleich intensiv und gleich wichtig erscheint. Sie sollen Wichtiges von Unwichtigem nicht unterscheiden können. Barkley hingegen führt an, dass seine Forschungsarbeiten ergaben, dass es Kindern mit ADHS nicht schwerer fällt als anderen Informationen zu filtern. Sie können dies im Vergleich zu gesunden Kindern nur nicht über einen so langen Zeitraum und wenden sich schneller neuen Aufgaben zu.16 Eben durch diese Reizoffenheit sind betroffene Kinder leicht ablenkbar, zum Beispiel durch im Klassenraum hängende Bilder an der Wand oder das Rascheln des Hintermannes mit einem Blatt Papier. Oft beginnt das aufmerksamkeitsgestörte Kind zu träumen und kann dem Geschehen um sich nicht mehr folgen. Weiterhin ist eine gestörte Aufmerksamkeit durch eine Unachtsamkeit gegenüber Dingen gekennzeichnet. Übermäßige Vergesslichkeit und häufiges Verlieren und Verlegen von Gegenständen, zum Beispiel Stifte, Bücher, Spielsachen machen ihnen die Bewältigung des Alltages schwer. Planvolles Handeln und die Organisation ihres Alltags, vor allem in der Schule, bereiten ihnen große Schwierigkeiten.17

In Verbindung mit der Störung der Aufmerksamkeit sind auch die Informationsaufnahme, deren Verarbeitung und Wiedergabe und das Gedächtnis gestört. Durch die ständige Reizüberflutung gelangen viele Informationen weder in das Kurzzeit- noch in das Langzeitgedächtnis, da sie bereits im Wahrnehmungsspeicher, dem Ultrakurzzeitgedächtnis, wieder gelöscht werden.18

Neben der Störung der Aufmerksamkeit ist die motorische Unruhe oder auch Hyperaktivität ein bezeichnendes Symptom der ADHS. Gemeint ist ein ausgeprägter, oft unangemessener Bewegungsdrang. Dass Kinder mit ADHS in vielen verschiedenen Bereichen tatsächlich aktiver sind als andere Kinder wurde in einer 1983 publizierten Studie vom National Institut of Mental Health in Maryland gezeigt. Die Forschergruppe fand heraus, dass die Kinder mit Hyperaktivität eindeutig aktiver waren, als die Kinder ohne ADHS und zwar unabhängig von der Tageszeit (auch am Wochenende und im Schlaf). Der größte Unterschied zwischen den Gruppen wurde registriert, wenn die Kinder in der Schule waren. ADHS-Kinder haben Schwierigkeiten ihre Energie zu bremsen und der Situation anzupassen. So haben sie beispielsweise Probleme mit dem Übergang vom aktiven, temporeichen Spielen auf dem Schulhof zum Unterricht, bei dem ruhiges, stilles Sitzen verlangt wird.19 Diese Kinder scheinen alles mit Volldampf zu tun. Es entsteht der Eindruck, sie können gar nicht langsam gehen. Sie rennen herum, wenn sie sich hinsetzen sollen oder sie bleiben nicht so lange sitzen, wie man es von ihnen in bestimmten Situationen erwartet. Sitzen sie an ihrem Platz, bewegen sie sich immer noch. Sie zappeln, kippeln mit dem Stuhl, strampeln mit den Beinen oder boxen ihren Tischnachbarn. Häufig sind bei diesen Kindern plötzlich auftretende Bewegungen zu beobachten. Beispielsweise greift das eben noch schreibende Kind, plötzlich mit hastigen Bewegungen nach dem Radiergummi, so dass die Umsitzenden sich erschrecken.

Dieses von Eltern und Lehrern oft beschriebene Verhalten bereitet den Betroffenen und deren Mitmenschen große Probleme bei der Bewältigung des Alltags. Die motorische Unruhe ist umso stärker, je jünger das Kind ist. Der Bewegungsdrang nimmt im Laufe des Lebens ab. Die Hyperaktivität aber bleibt bestehen, sie wandelt sich von einer äußeren, beobachtbaren Zappeligkeit in eine innere Unruhe.20

Um Kinder mit ADHS zu verstehen muss man wissen, dass sie nicht nur einfach zu viel in Bewegung sind, sondern dass sie zu viel re-agieren. Sie lassen sich in ihrem gesamten Verhalten viel mehr durch die Dinge in ihrer Umgebung beeinflussen als gleichaltrige Kinder ohne ADHS. In Situationen, in denen andere Kinder viel zurückhaltender wären, reagieren sie schnell und ungestüm. In diesem Zusammenhang redet man von Hyperreaktivität. Das höhere Aktivitätsniveau scheint oftmals eher eine Folgeerscheinung ihres ungebremsten Reagierens auf die äußere Situation zu sein. Das bedeutet, dass die Hyperaktivität und die Impulsivität von ADHS-Kindern letztendlich auf die gleiche Ursache zurückzuführen sind, nämlich auf die Unfähigkeit das eigene Verhalten zu hemmen.21

Die Impulsivität ist weiteres Kernsymptom, welches unweigerlich mit der ADHS verknüpft ist. An ADHS leidende Kinder folgen ihren Impuls, also der Idee, die ihnen gerade in den Sinn kommt. Sie handeln ohne nachzudenken und übersehen hierbei mögliche negative Folgen ihres Handelns. Es fällt ihnen schwer ihre erste spontane Reaktion auf eine Situation zu unterdrücken. Impulsives Verhalten fällt vor allem in Gruppensituationen auf, sowohl in der Schule oder im Kindergarten, als auch in der Freizeit.22

Eine interessante Theorie besagt, dass Menschen mit ADHS möglicherweise die Nachfahren der Jäger und Sammler sind. Für die Steinzeitmenschen war es lebensnotwendig, im Bruchteil einer Sekunde über Angriff oder Flucht zu entscheiden. Den instinktiven Impuls zu überdenken hätte tödlich sein können. Der Theorie zufolge baut unsere moderne Gesellschaft jedoch auf „Farmer-Systemen“ auf. Diese zwingen die Jäger und Sammler dazu, sich der fremden Struktur anzupassen und ihre Instinkte zu unterdrücken. Nach dieser These müssen Kinder mit ADHS in dieser Gesellschaft lernen, ihr instinktives Handeln in den Griff zu bekommen.23

ADHS-Kinder ringen ständig um Beachtung, sie unterbrechen Gespräche und drängen sich in den Mittelpunkt und reden übermäßig viel. Sie begeben sich oft in gefährliche Situationen und scheinen kein Gefahrenbewusstsein zu haben. Starke Gefühlsausbrüche prägen den Alltag dieser Kinder. Viele hyperaktive Kinder neigen zu massiven Wutanfällen. Auslöser dafür sind oft Situationen in denen sie sich ungerecht behandelt fühlen, wenn ihr Handeln für sie negative Folgen hat.24 Die niedrige Frustrationstoleranz dieser Kinder führt sowohl bei Wut, als auch bei Freude zu ungesteuerten Reaktionen. Auf Grund dieser Impulsivität haben die Kinder massive Probleme bei der Übernahme von Verhaltens- und Alltagsregeln.25

2.2 Komorbidität

In Therapie und Beratung haben die Fachkräfte eher selten mit Kindern zu tun, die nur unter einer einzigen Störung leiden. Der Anteil der Kinder mit ADHS die in eine solche Sprechstunde kommen und keine weitere Störung aufweisen, liegt bei etwa 31 Prozent.26 Viele Kinder mit einer ADHS-Diagnose haben zusätzlich mit anderen Problemen zu kämpfen - ein Phänomen, das als Komorbidität bezeichnet wird. In der Fachliteratur spricht man auch von Sekundären Symptomen, die vorwiegend parallel zu den Primärsymptomen (Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität) auftreten. Das Auftreten dieser Begleitstörungen macht die Diagnostik des ADHS sehr schwierig, da sich schwer zwischen den eigentlichen Symptomen der Krankheit und den aufgrund dessen auftretenden Störungen unterscheiden lässt.27

Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass Kinder mit ADHS in ihrer allgemeinen Entwicklung häufig hinter ihren gesunden Altersgenossen zurückbleiben. Sie schaffen es weniger gut, ihren täglichen Aufgaben gerecht zu werden, kommen nicht so gut mit ihren Mitmenschen zurecht und sind allgemein weniger selbstständig. Kinder, die im Vorschulalter bereits in ihrer psychosozialen Entwicklung beeinträchtigt sind, haben später sehr viel häufiger als andere Kinder mit AHDS Probleme im schulischen und familiären Umfeld.28

Etwa 14 Prozent dieser Kinder entwickeln neben der ADHS eine Störung des Sozialverhaltens.29 Beide Störungsbilder hängen wie folgt zusammen: Ein von ADHS betroffenes Kind verfügt auf Grund seiner Schwierigkeiten in den drei Grundbereichen - Aufmerksamkeit, motorische Unruhe und Impulsivität - über wenig Möglichkeiten, auf dem sozial anerkannten Weg Erfolg zu haben. Es erbringt schlechtere Leistungen als andere Kinder, es hat Schwierigkeiten, sich an Regeln zu halten und es handelt nicht vorausschauend, also oft falsch. Solche Kinder neigen dazu, sich auf andere Weise Beachtung zu verschaffen. Anerkanntermaßen kommt es bei Kindern mit ADHS häufiger zu Problemen auf Grund renitentem und trotzigem Verhalten. Etwa zwei Drittel der betroffenen Kinder können sehr starrköpfig sein und streiten sich häufiger als andere Kinder mit ihren Eltern oder Altersgenossen.30

Diese Erfahrungen, die das Kind mit sich selbst und den Reaktionen anderer Personen macht, machen es unsicher und schränken sein ohnehin nicht sehr ausgeprägtes Selbstwertgefühl weiter ein. Die Folge ist ein eher negatives Selbstbild, was jedoch häufig durch expansive Verhaltensweisen, wie offensives Verhalten oder Aggressivität, kaschiert wird. Viele dieser Kinder zeigen große Stimmungsschwankungen. Sie haben eine niedrige Frustrationstoleranz und neigen zu erhöhter Aggressivität. Häufig kommt es zu massiven Wutausbrüchen verbaler oder gar tätlicher Art. In Folge dessen verschärfen sich mit dem Fortbestehen der Störung die Verhaltensschwierigkeiten dieser Kinder und es können sich schwerere Formen antisozialen Verhaltens entwickeln.31 In diesem Fall treten Kinder und Jugendliche mit ADHS ihren Bezugspersonen gegenüber äußerst aggressiv auf, lügen und halten sich nicht an Absprachen oder wenden Gewalt gegenüber Anderen oder Tieren an. Auch Stehlen, Vandalismus, sogar Brandstiftung und andere kriminelle Verhaltensweisen können zum Verhaltensmuster werden. Laut Barkley entwickeln bis zu 65 Prozent der Kinder mit ADHS irgendwann eine Störung mit oppositionellem Trotzverhalten und 45 Prozent eine noch gravierendere Verhaltensstörung. Möglicherweise ist diese Entwicklung die Antwort der Betroffenen auf die ständigen Frustrationen und Kränkungen.32

Um jedoch von einer Störung des Sozialverhaltens sprechen zu können, muss das Verhalten über gewöhnlichen kindlichen Unfug oder jugendliche Aufmüpfigkeit hinausgehen. So sind beispielsweise Wutausbrüche bei einem Dreijährigen eher normal. Ferner sind vereinzelte abweichende oder kriminelle Handlungen kein Grund um von einer Störung zu reden. Dies darf erst dann geschehen, wenn das Kind oder der Jugendliche dauerhaft solch ein problematisches Verhalten an den Tag legt.33

Wie bereits mehrfach erwähnt wurde, stellt die Schule ein erhebliches Problemfeld für Kinder mit ADHS dar. Sie haben sowohl Schwierigkeiten damit, den Leistungsanforderungen gerecht zu werden, als auch damit, sich im Klassenzimmer angemessen zu verhalten. Der Grund hierfür liegt meistens im Vorliegen einer Lernstörung, auch Teilleistungsschwäche genannt. Diese Begleitstörung tritt bei circa 25 Prozent der von ADHS betroffenen Kinder auf. Hierunter versteht man Beeinträchtigungen des Lern- und Leistungsverhaltens bei sonstiger im Normbereich liegender körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit. Hierzu gehören die Lese- Rechtschreib-Schwäche (Legasthenie) und die Rechen-Schwäche (Dyskalkulie).34 Erleben betroffene Kinder immer wieder, wie sie in Leistungssituationen in der Schule versagen oder auch in sozialen Situationen auf Ablehnung stoßen, erzeugt das bei einigen dieser Kinder Angst. Diese Angst kann sich unterschiedlich ausdrücken. Jüngere Kinder zeigen überwiegend Trennungsangst und fühlen sich ohne ihre Bezugsperson hilflos. Ältere Kinder entwickeln häufig Prüfungs- oder Schulangst. Viele ADHS-Kinder leiden unter sozialer Angst. Da sich diese Kinder in sozialen Situationen oft unsicher fühlen wird diese Angst überkompensiert, indem sie mit Blödeleien oder überzogener Coolness reagieren. Aus einer solchen Angststörung können im Laufe der Zeit schwerwiegendere Störungen wie Panikstörungen, depressive Störungen, Agoraphobien oder Soziale Phobien entstehen.35 Etwa 34 Prozent der Betroffenen leiden unter solchen Angst- oder affektiven Störungen. Dabei sind viele emotionale Störungen altersgemäß. So treten zum Beispiel Tierphobien meist in der frühen Kindheit auf, während Depressionen häufig im Jugendalter diagnostiziert werden. Häufig entwickeln die Betroffenen im Erwachsenenalter begleitend Störungen, wie Sucht- und Angsterkrankungen. Zudem ist zu beobachten, dass Kinder, aber auch Jugendliche, die einer starken psychischen Belastung ausgesetzt sind, häufig einnässen und unter Schlafstörungen leiden. Oftmals verschwinden diese Probleme im Rahmen einer erfolgreichen ADHS-Behandlung. Im Allgemeinen ist die Prognose emotionaler Störungen relativ gut, zumal sie sich dank günstiger Umstände auch spontan zurückbilden können.36

Neben verhaltensbezogenen und emotionalen Problemen ist die körperliche Entwicklung von Kindern mit einer ADHS-Diagnose häufig gestört. Bei circa zehn bis 40 Prozent aller betroffenen Kinder lassen sich Entwicklungsstörungen im Bereich der Sprachentwicklung und der motorischen Entwicklung nachweisen. In diesem Zusammenhang findet man in der Literatur oft den Hinweis auf das Bestehen von Problemen im Bereich der Gehörentwicklung. Zwar gibt es keine eindeutigen wissenschaftlichen Belege dafür, jedoch zeigen einige Studien, dass ADHS-Kinder häufiger unter Mittelohrentzündungen leiden als andere Kinder. Diese Entzündungen können sich negativ auf die Hörfähigkeit auswirken und in der Folge die Sprachentwicklung beeinträchtigen. Bezüglich der Entwicklung der Motorik zeigen Studien, dass diese bei hyperaktiven Kindern häufiger verzögert ist. So zeigt ein großer Teil der Kinder mit ADHS eine schlechte motorische Koordination; besonders betroffen ist die Feinmotorik.37

Von Begleitstörungen, die die Lebensqualität der Betroffenen sehr stark mindert, sind ungefähr 30 Prozent aller ADHS-Patienten betroffen. So leiden etwa elf Prozent der Menschen mit ADHS unter einer Ticstörung. Tics sind plötzliche, wiederholte, stereotype und unwillkürliche Bewegungen oder stimmliche Äußerungen. Das Tourette- Syndrom ist eine Sonderform der Ticstörungen und äußert sich durch gleichzeitig auftretende motorische und vokale Tics.38 Häufig treten jedoch einfache Tics, wie Blinzeln und Schulterzucken oder Räuspern und Husten auf. Weil zu diesem Zeitpunkt viele Betroffene bereits Medikamente nehmen, neigen Kritiker zu der Annahme, dass für die später auftretenden Tics das eingesetzte Medikament ursächlich sei. Bei der Mehrzahl der Patienten führt der Einsatz von Stimulanzien jedoch nicht zu einer Verschlechterung der Tic-Symptomatik. Die Ticstörung ist medikamentös - auch parallel zu Methylphenidat - gut behandelbar.39

Entgegen dieser defizitären Sichtweise auf die Merkmale der Störung sollen an dieser Stelle einige positive Seiten des Phänomens ADHS genannt werden. Denn allzu oft geraten angesichts der vielen Schwierigkeiten aufmerksamkeitsgestörter Kinder deren Stärken in Vergessenheit. Diese liegen unter anderem in ihrer Spontanität und ihrem Sinn für Situationskomik. Sie sind ideenreich, entdeckungsfreudig, kreativ, flexibel und risikofreudig. Somit erfüllen sie viele Vorraussetzungen, die in vielen Berufen geschätzt und gefordert werden.40 Viele Eltern berichten, dass sich diese Kinder durch einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, sowohl für sich als auch für andere, auszeichnen. Zudem sind Kinder mit ADHS häufig ausgesprochen hilfsbereit, interessiert und offen. Sie zeigen eine ausgeprägte Liebe für Tiere und zur Natur und bestechen durch ihre körperliche Fitness und ihren Spaß an Bewegung. Darüber hinaus besitzen viele dieser Kinder ein großes Talent im Tanzen und Schauspielern. So können Kinder mit ADHS durch ihr belebendes Neugierverhalten und ihre eigene Art Probleme zu lösen durchaus Leben in den grauen Alltag bringen.41 Insofern hat das Problemverhalten dieser Kinder auch eine positive Perspektive. Schade ist nur, dass für diese Talente oft wenig Raum gelassen wird und selten die richtigen Nischen dafür eingerichtet werden können, in denen diese Fähigkeiten richtig zur Geltung kommen können.42

Dieser erste Abschnitt der Arbeit zeigt, dass Kinder mit ADHS nicht alle gleich sind. Sie unterscheiden sich im Verhalten, ihren Schwächen und Stärken, der Entwicklung und den späteren Risiken deutlich voneinander. Bei einem Teil der Kinder bleibt die ADHS einzige Störung, bei anderen kommen Lernschwierigkeiten, Aggressivität, antisoziales Verhalten sowie Probleme im Umgang mit Gleichaltrigen hinzu. Alle diese Kinder sind nur unzureichend in der Lage ihr eigenes Verhalten zu steuern und sich auf Dinge und Aufgaben zu konzentrieren. Diese Kinder brauchen ganz besonders die Zuwendung, Unterstützung, Anleitung, Erziehung und Liebe ihrer Eltern und Bezugspersonen. Die effektive Umsetzung dieser Prinzipien und die damit im Zusammenhang stehenden Probleme im Kontext der Familie werden im Kapitel drei und vier ausführlich erörtert. Doch vorerst sollen die Möglichkeiten zur Diagnostik der ADHS und ihre Notwendigkeit aufgezeigt werden.

2.3 Diagnostik

Die Diagnose ADHS ist nicht nur in Fachkreisen sehr umstritten. Auch in den Medien und unter betroffenen Eltern, Lehrern und Sozialarbeitern wird dieses Thema heiß diskutiert. Unter Kritikern heißt es: Die Diagnose ADHS wird zu oft gestellt. Zudem wurde vor zwanzig Jahren die Störung noch viel seltener diagnostiziert und medikamentös behandelt.43

Einerseits akzeptieren viele Schulmediziner ADHS mittlerweile als Krankheit. Andere Fachleute bezweifeln dagegen, dass alle Kinder, bei denen ADHS diagnostiziert wurde, unter der gleichen Störung leiden. „ADHS ist keine Krankheit, sondern eine Art Sammeltopf für ganz unterschiedliche Verhaltensstörungen“(Schmidt, Hans-Reinhard in: Focus Online; Psychologie Special; 22.10.2007), meint Schmidt, Psychologe in Bornheim bei Bonn. Seiner Erfahrung nach diagnostizieren Ärzte ADHS häufig bei Kindern, die eigentlich unter anderen Problemen, wie Legasthenie, Dyskalkulie, Probleme mit dem Gehör oder dem Gesichtssinn oder psychomotorische Störungen leiden. Zudem beschäftigten sich Ärzte häufig nur oberflächlich mit den kleinen Patienten, bemängelt der Psychologe. Auch die Therapie ist vielen ADHS-Kritikern ein Dorn im Auge. „Leider ist es in der Praxis so, dass Ärzte meist ausschließlich Psychopharmaka verschreiben und die wichtigen übrigen Therapien vernachlässigen“, kritisiert Schmidt. „Das ist ein Skandal!“( Schmidt, Hans-Reinhard in: Focus Online; Psychologie Special; 22.10.2007)

Entgegen dieser lauten Kritiken zeigen mehrere Untersuchungen Barkleys, dass bei weniger als der Hälfte der an ADHS erkrankten Kinder, diese auch diagnostiziert werde und teilweise weniger als zwanzig Prozent der Betroffenen medikamentös behandelt werden. Man kann davon ausgehen, dass dank einer deutlichen Zunahme der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema heute mehr Kinder richtig diagnostiziert werden und in den Genuss einer adäquaten Förderung und Behandlung kommen als im Veröffentlichungsjahr des Buches 2002. Jedoch ist es immer noch ein großes Problem, dass ein hoher Anteil der an einer behandlungsbedürftigen Störung leidenden Kinder nicht fachgerecht untersucht und behandelt werden und dass die Hilfsangebote für Kinder mit ADHS unzureichend sind. Wie bereits in dem Abschnitt über die Häufigkeit des Auftretens der ADHS erläutert, sei nach Meinung vieler Autoren, die Zunahme der Diagnose einerseits darauf zurückzuführen, dass das Problem ADHS stärker ins Bewusstsein der Allgemeinheit gerückt ist, was zur Konsequenz hat, dass die betroffenen Kinder häufiger beim Facharzt zur Untersuchung vorgestellt werden und ihre Störung öfter diagnostiziert wird. Außerdem sei diese Entwicklung auf neuere Diagnosemethoden zurückzuführen, die eine ADHS heute deutlicher von einer anderen Störung abgrenzen.44 Auf der anderen Seite haben Veränderungen in der Familienstruktur und Erziehung zu einem Anstieg der Diagnosehäufigkeit ADHS geführt.

Die Diagnosestellung im Bereich des ADHS gestaltet sich selten einfach. Deshalb wird oft vor einer zu schnellen und zu einseitigen Diagnose gewarnt. Neben einem vorschnellen Einkategorisieren des Kindes wird auch davor gewarnt, alle negativen Erscheinungen und Tätigkeiten des Kindes mit der Bemerkung “Er bzw. Sie leidet unter ADHS, dafür kann ja niemand etwas...” zu entschuldigen. Fehlerhafte Verhaltensweisen in stressigen Situationen oder auch überaktives Verhalten sind zwar klassische Erscheinungsformen, allerdings müssen Fachleute und auch Betroffene wissen, dieses Verhalten ein- und zuzuordnen. Da es für ADHS keinen eindeutigen organischen Befund gibt, kann die Störung nur auf Grund von bestimmten Merkmalen beschrieben werden. Eine bestimmte Anzahl von Symptomen muss über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten deutlich beobachtbar sein und das auffällige Verhalten muss sich in unterschiedlichen Situationen zeigen. Darüber hinaus muss das Kind bereits im Vorschulalter in seinem Verhalten auffällig geworden sein. Nur wenn alle drei Bedingungen erfüllt sind, kann die Diagnose ADHS eindeutig gestellt werden. Da der Übergang von normalem zu auffälligem Verhalten fließend ist, gestaltet sich die Diagnose schwierig und zeitaufwendig.45

Um ADHS letztendlich diagnostizieren zu können ist eine umfangreiche Untersuchung des jeweiligen Kindes notwendig. Hierbei gilt, je genauer das Kind beobachtet wurde, desto besser kann auf seine speziellen Schwierigkeiten eingegangen werden. Die Lebensgeschichte des betroffenen Kindes spielt bei der Diagnosestellung eine entscheidende Rolle und wird genau beleuchtet. Für eine exakte Analyse der Entstehungsbedingungen ist also eine ausführliche Anamnese eine unerlässliche Vorraussetzung. Es geht dabei um die Entwicklung und Ausprägung der einzelnen Symptome, um auslösende Faktoren, aber auch um erzieherische Grundeinstellungen und Erwartungshaltungen. Zudem geht es darum die Effekte bisher eingesetzter Maßnahmen einzuordnen und die verfügbaren beziehungsweise mobilisierbaren Möglichkeiten zu erzieherischer Betreuung und pädagogischer Hilfe zu prüfen. Hilfreich sind die Aussagen von wichtigen Vertrauens- und Bezugspersonen, wie den Eltern, Lehrer oder Erzieher bezüglich der Familiensituation, des Sozial- und Leistungsverhaltens des Kindes, Erkrankungen in der Familie, Komplikationen in der Schwangerschaft, der frühkindlichen Entwicklung, des Sozialverhaltens usw.. Standardisierte Fragebögen können hierbei hilfreich sein, sollen und können jedoch nicht das persönliche Gespräch ersetzen. Um eine genaue Diagnose stellen zu können wird außerdem das Verhalten des Kindes beobachtet und Schulzeugnisse und -beurteilungen werden ausgewertet. Das Kind wird hinsichtlich seines so genannten Psychiatrischen Status (freundlich, kooperativ, depressiv, oppositionell u.Ä.) sowie neurologischer Aspekte (zum Beispiel Grob- und Feinmotorik) untersucht. Zudem haben sich zur Sicherung der Diagnose ADHS psychologische Testverfahren, wie zum Beispiel Intelligenz- und Konzentrationstests und Persönlichkeitsfragebögen bewährt.

[...]


1 vgl. Alfred / Eiden / Heuschen 2007, S. 13

2 vgl. Emmerich / Lex-Kachel / Oberhauser 2007, S. 14

3 vgl. Alfred / Eiden / Heuschen 2007, S. 14

4 vgl. Lauth / Schlottke 1995, S. 3

5 vgl. Barkley 2002, S. 43

6 vgl. Internet 4

7 vgl. Blanz 2001, S. 10

8 vgl. Lauth / Schlottke 1995, S. 8

9 vgl. Lauth / Schlottke 1995, S. 7

10 vgl. ebd., S. 7

11 vgl. Kurz-Lungenbein 1997, S. 20

12 vgl. Gelb / Völkel-Halbrock 2007, S. 10

13 vgl. Krowatschek 2004, S. 23 f.

14 vgl. Barkley 2002, S. 63

15 vgl. Alfred / Eiden / Heuschen 2007, S. 13

16 vgl. Barkley 2002, S. 68

17 vgl. Krowatschek 2004, S. 24

18 vgl. Emmerich / Lex-Kachel / Oberhauser 2007, S. 38 ff.

19 vgl. Barkley 2002, S. 77

20 vgl. Krowatschek 2004, S. 24

21 vgl. Barkley 2002, S. 78

22 vgl. Becker / Steding-Albrecht 2006, S. 381

23 vgl. Fitzner / Stark 2000, S. 40 f.

24 vgl. Krowatschek 2004, S. 25

25 vgl. Internet 1

26 vgl. Gelb / Völkel-Halbrock 2007, S. 13

27 vgl. Holowenko 1999, S. 22 ff.

28 vgl. Barkley 2002, S. 159 f.

29 vgl. Gelb / Völkel-Halbrock 2007, S. 13

30 vgl. Fitzner / Stark 2000, S. 146

31 vgl. Lauth / Schlottke 1995, S. 3

32 vgl. Barkley 2002, S. 168

33 vgl. Alfred / Eiden / Heuschen 2007, S. 146

34 vgl. Alfred / Eiden / Heuschen 2007, S.104

35 vgl. Krowatschek 2004, S. 33

36 vgl. Alfred / Eiden / Heuschen 2007, S. 127 f.

37 vgl. Barkley 2002, S. 164

38 vgl. Alfred / Eiden / Heuschen 2007, S. 144

39 vgl. ebd., S. 145

40 vgl. Lauth / Schlottke / Naumann 2000, S. 37

41 vgl. Alfred / Eiden / Heuschen 2007, S. 19

42 vgl. Lauth / Schlottke / Naumann 2000, S. 38

43 vgl. Barkley 2002, S.48

44 vgl. Barkley 2002, S. 48 ff.

45 vgl. Emmerich / Lex-Kachel / Oberhauser 2007, S. 16

Ende der Leseprobe aus 90 Seiten

Details

Titel
Diagnose ADHS - Betroffene Kinder und der Umgang mit ihnen im Kontext der Familie
Hochschule
Hochschule Magdeburg-Stendal; Standort Magdeburg
Note
1.3
Autor
Jahr
2008
Seiten
90
Katalognummer
V186687
ISBN (eBook)
9783656995968
ISBN (Buch)
9783656996026
Dateigröße
807 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
diagnose, adhs, betroffene, kinder, umgang, kontext, familie
Arbeit zitieren
Diana Tenner (Autor:in), 2008, Diagnose ADHS - Betroffene Kinder und der Umgang mit ihnen im Kontext der Familie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/186687

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Diagnose ADHS - Betroffene Kinder und der Umgang mit ihnen im Kontext der Familie



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden